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Wie ein ungebetener „Gast“ China und die ganze Welt in Atem hält

Von Marc-Stephan Arnold  ·   2020-02-04  ·  Quelle:Beijing Rundschau
Stichwörter: Frühlingsfest;Coronavirus
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Sonntag, 26. Januar 2020  

Eine Künstliche Intelligenz aus Kanada namens BlueDot wollte uns offenbar helfen, doch wir haben ihre Warnungen ignoriert. Diese Nachricht kursiert heute durch die Medien. 

Mit einem Schlag wird mir bewusst, dass wir tatsächlich im sagenumwobenen und in vielen Science-Fiction-Filmen und -Romanen beschworenen Jahr 2020 angekommen sind: Künstliche Intelligenzen sind da! Vielleicht noch nicht so hochentwickelt, wie wir uns das in manchen Träumen, Geschichten und Filmen vorgestellt hatten. Aber sie sind unter uns. Und sie wollen uns helfen! Vielleicht sollten wir ihnen zuhören? 

Montag, 27. Januar 2020 

Die USA wollen den Flugverkehr zwischen China und Amerika komplett einfrieren. Auf WeChat wird darüber diskutiert, dass die USA wohl planen, China vor der WHO als Gesundheitsrisiko für die gesamte Welt deklarieren zu lassen, um dem Ansehen Chinas und auch der chinesischen Wirtschaft den größtmöglichen Schaden zuzufügen. Ich kann diese Angst vieler Chinesen zwar verstehen, glaube aber nicht, dass die WHO solche Entscheidungen leichtfertig – oder nur auf Wunsch eines einzigen Landes – fällt. Außerdem richtet sich die Ausrufung eines internationalen Gesundheitsnotstandes niemals gegen ein Land, sondern soll dazu dienen, die internationale Gemeinschaft zu warnen. 

Dienstag, 28. Januar 2020; „Tag der Rückfahrt“  

Meine Schwiegermutter meint es heute besonders gut mit mir. Während der letzten Tage hat sie genau darauf geachtet, welche ihrer allesamt köstlichen Gerichte mir besonders gut munden. Ihre Schlussfolgerung: „fenzheng rou“ (粉蒸肉) müsste ihrem Schwiegersohn besonders gut schmecken. Also steht sie um kurz nach vier Uhr (!) morgens auf, um ihrem „nü xu“ (女婿, dt. Schwiegersohn) sein vermeintliches neues Leibgericht zu kochen. Mit dem Resultat, dass in der Mitte des Frühstückstischs heute ein Teller mit einem ganzen Berg an Fleisch steht – und ich keinen einzigen Bissen Fleisch runterbekomme. Dabei schmeckt mir das Essen hier so gut. Aber früh am Morgen kann ich sowas einfach nicht essen. Und bin damit nicht alleine – niemand rührt den Fleischberg an. Arme Schwiegermama.   

Draußen ist es äußerst neblig, man sieht keine 20 Meter weit. Im Schritttempo fährt uns mein Schwiegervater zum Bahnhof.  

Man kann die Ausnahmesituation, die derzeit in China herrscht, vielleicht auch daran erkennen, dass unser Zug ein wenig Verspätung hat. Das ist wirklich das erste Mal, dass ich das in China erlebe: ein verspäteter Zug! Kann aber auch sein, dass meine Uhr nicht richtig geht. Das ist sogar wahrscheinlicher.  

Der Zug ist fast leer. Wir könnten uns aussuchen, wo wir sitzen wollen, sagt uns die Zugbegleiterin und deutet auf mehrere freie Sitzreihen. Wir setzen uns und beginnen sogleich damit, ein wenig von dem Schlaf nachzuholen, der uns in den letzten Tagen dann doch gefehlt hat. 

Kurz vor dem Ende unserer Fahrt teilt die Zugbegleiterin uns Zettel aus, die wir ausfüllen sollen: woher wir kommen, wo wir hinwollen (Adresse), persönliche Angaben sowie Angaben zu den benutzten Verkehrsmitteln. 

 

Jeder Reisende muss dieser Tage in China ein Infoblatt mit persönlichen Daten sowie Informationen zur Reiseverbindung und Adresse abgeben. [Foto: MSA/Beijing Rundschau] 

 

In Beijing wartet Gesundheitspersonal in Schutzanzügen auf uns. Sensoren messen unsere Körpertemperatur. Die persönlichen Infozettel werden eingesammelt. [Foto: MSA/Beijing Rundschau] 

Mittwoch, 29. Januar 2020 

Die Lufthansa hat angekündigt, alle Flüge zwischen China und Deutschland für einige Zeit einstellen zu wollen. Meine Eltern melden sich inzwischen täglich bei mir, und auch einige besorgte Freunde haben sich gemeldet. Die Berichterstattung westlicher Medien scheint inzwischen kräftig die „Paniktrommel“ zu rühren. Nachdem ich allen von der tatsächlichen Situation hier vor Ort sowie den massiven Maßnahmen Chinas im Kampf gegen das Virus berichtet habe, sind aber alle erstmal beruhigt. 

Die chinesische Bahn hat auf bestimmten Strecken den Zugverkehr stark eingeschränkt oder komplett eingestellt, vor allem in und um Wuhan herum.  

Von der Redaktion der Beijing Rundschau erhalte ich die Nachricht, dass alle, die das Frühlingsfest außerhalb Beijings verbracht haben, erst einmal für zwei Wochen in ihrer Wohnung blieben sollen. Gearbeitet werden soll erst ab dem 3. Februar wieder, dann aber erstmal von zu Hause aus. 

Donnerstag, 30. Januar 2020  

Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn ist mit einer doch recht merkwürdigen Aussage aufgefallen. Es gebe wegen des neuen Virus in China keinen Grund zur Panik, so Spahn. Ich überlege einen Moment, wie es denn wäre, wenn er vor die Kamera treten würde und sagen würde: „Es gibt Grund zur Panik, bitte werden Sie jetzt alle sofort panisch!“ 

Nein, Panik ist nie ein guter Ratgeber. Ich persönlich beginne aber immer dann einen leichten Anflug von Panik zu spüren, wenn Politiker vor die Kameras treten und mir sagen, dass ich nicht in Panik geraten sollte. Aber das mag daran liegen, dass ich Deutscher bin. „German Angst“ und so. 

Die Zahl der Infizierten und Verdachtsfälle in Wuhan und anderen chinesischen Städten und Provinzen wächst inzwischen täglich im vierstelligen Bereich.  

Freitag, 31. Januar 2020 

Vorläufig letzter Eintrag. Die Zahl der erkrankten Personen und der Verdachtsfälle steigt unaufhörlich. Die Weltgesundheitsorganisation hat 2019-nCoV inzwischen zu einer weltweiten Bedrohung erklärt, immer mehr Länder setzen den Flugverkehr nach China zeitweilig aus. 

Ich habe großen Respekt vor meinen chinesischen Freunden und meiner Familie hier. Sie alle haben versucht, das Frühlingsfest ordentlich zu feiern, obwohl die Umstände in diesem Jahr wirklich schwierig waren. Aber niemand hier in meinem Umfeld hat panisch reagiert. Niemand wollte sich von diesem ungebetenen Gast namens „2019-nCoV“ das Frühlingsfest verderben lassen. Aber bedrückt war die Stimmung schon.  

So ein fieses Virus macht vor Landesgrenzen bekanntermaßen nicht halt, und seine Inkubationszeit von 10 bis 14 Tagen, in der ein Infizierter bereits andere Menschen anstecken kann, sorgt dafür, dass 2019-nCoV nicht einmal entdeckt werden kann, bevor weitere Menschen überall erkrankt sind. Deshalb gibt es einige Lehren, die wir – nicht nur in China, sondern überall auf der Welt – aus diesem Drama ziehen müssen.  

Erstens müssen wir meiner Meinung nach aufhorchen und in Zukunft sehr aufmerksam sein, wenn uns beispielsweise KIs oder andere Programme oder Supercomputer etwas über den möglichen Ausbruch einer Krankheit oder über ein potenziell gefährliches Virus mitteilen wollen. Wir schreiben das Jahr 2020, die Zukunft ist da. Und wenn sie uns auch noch nicht übertreffen – die ersten KIs (Künstliche Intelligenzen) sind bereits unter uns. Vielleicht sollten wir ihnen besser „zuhören“? 

Ebenfalls zuhören sollten wir selbstverständlich Ärzten und anderen Wissenschaftlern oder Experten, die uns vor potenziellen Gefahren warnen wollen. Das ist schließlich ein wichtiger Teil ihres Jobs. Und im Falle einer potenziellen Epidemie bedeutet jeder einzelne Tag, an dem die Bevölkerung früher gewarnt wird und Gegenmaßnahmen getroffen werden, am Ende Tausende Infizierte weniger – und zwar nicht nur in dem Land, in dem das Virus zuerst auftritt, sondern weltweit.  

Drittens sollten wir alle zwar nicht ängstlich, aber immer vorbereitet und wachsam sein. Internationale Gesundheitsnotstände aufgrund von Virusinfektionen wurden in den letzten zehn Jahren etwa fünf bis sechs Mal ausgerufen, also durchschnittlich etwa alle zwei Jahre einer. Einige wichtige Dinge, wie etwa ausreichend Desinfektionsmittel und einfache Atemschutzmasken, nehmen nicht viel Platz weg und sollten in keinem Haushalt fehlen. Auch sonst sollte man über die ausreichende Bevorratung von Wasser und Lebensmitteln nachdenken. Das hat nichts mit Panikmache zu tun, sondern eher mit verantwortungsvollem, (mit-) menschlichem Handeln.   

Ich für meinen Teil hoffe nicht nur, dass „2019-nCoV“ bald der Garaus gemacht wird, sondern ich freue mich auch darauf, in Zukunft noch viele Frühlingsfeste gemeinsam mit meiner chinesischen Familie und meinen chinesischen Freunden zu feiern. Dann aber hoffentlich ohne „ungebetene Gäste“. 

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