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Gemeinsame Worte finden – Was mich das Chinesische gelehrt hat |
Von Verena Menzel · 2022-08-11 · Quelle:german.chinatoday.com.cn |
Stichwörter: Deutschland;China;Chinesisch | Druck |
„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, sagte im 20. Jahrhundert einst der bedeutende Philosoph Ludwig Wittgenstein. Die Grenzen meiner eigenen Welt sollten sich kurz nach der Jahrtausendwende verschieben, nämlich als ich im Jahr 2005 in den Semesterferien anfing, Chinesisch zu lernen.
Was das Sprachenlernen angeht, war ich damals trotz meiner jungen Jahre gewissermaßen schon ein alter Hase. Zu Schulzeiten hatten Englisch, Französisch und Latein auf dem Stundenplan gestanden. Für das Magisterstudium zog es mich sogar noch tiefer in die Gefilde der Linguistik. Ich entschied mich, in Mainz Vergleichende Sprachwissenschaft zu studieren und tastete mich unter anderem in die Grammatikgründe des Finnischen und Arabischen vor. Doch eine Sprache wie Chinesisch war mir noch nicht untergekommen, bis zu besagtem Spätsommer 2005. Im Nachhinein muss ich gestehen: es war Liebe auf den ersten Blick.
Gibt ihre Faszination für die chinesische Sprache weiter: Verena Menzel arbeitet als Übersetzerin und Redakteurin in Beijing und betreibt außerdem die Onlinesprachschule New Chinese.
Sich endlose Verbtabellen ins Gehirn hämmern? Deklinationsgymnastik nach der Trillerpfeife von Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ? Tempus-Sprints auf dem Grammatik-Zeitstrahl von Plusquamperfekt über Präsens bis hin zum Futur II? Im Chinesischen alles Fehlanzeige! Ich war wie berauscht von der minimalistischen Eleganz des „Putonghua“, das ganz ohne Deklinations- und Konjugations-Verrenkungen auskommt. Simplify your language – es hatte mich wahrlich gepackt und ich schwebte als Sprachenlernerin auf Wolke 7.
Verschlimmert wurde mein linguistischer „Crush“ noch durch den Charme der chinesischen Wortbildung, wo sich die Bedeutung einzelner Schriftzeichen nicht selten wie in einem linguistischen Legospiel zu neuen Sinneinheiten zusammenpinnen lässt. In meinem Vokabeltagebuch tummelten sich bald exotische Begriffe wie „elektrisches Gehirn“ (电脑 diànnǎo - Computer), „Lichtblase“ (灯泡 dēngpào - Glühbirne), „Wandtiger“ (壁虎 bìhǔ - Salamander, Gecko), „Rauchblume“ (烟花 yānhuā - Feuerwerk), „Tintenbrille“ (墨镜 mòjìng - Sonnenbrille) oder die „Hose in Form des Schriftzeichen 丁“ (丁字裤 dīngzìkù - String-Tanga).
Ins Schwärmen brachte mich auch die teils unverblümt bildliche Gestalt der Schriftzeichen. Manche davon kommen in ihrem Strichgewand bedeutungsmäßig direkt auf den Punkt. So etwa die „Hanzi“ für „pausieren“ (休 xiū – ein Mensch 人 lehnt an einem Baum 木), „Mann“ (男 nán – die Kraft 力 auf dem Feld 田), „Spieß“ (串 chuàn – das Zeichen sagt eigentlich schon alles) oder „uneben, holprig“ (凹凸āotū – quasi ein in Schriftzeichen gegossenes Kopfsteinpflaster).
Mit wachsender Kenntnis auch abstrakterer Komponenten wurden die neuen Bedeutungssynapsen, die sich dank des Chinesischen in meinen Hirnwindungen bildeten, immer zahlreicher. Zerlegt man etwa das Schriftzeichen 趣 qù in seine Einzelbestandteile, zeigt sich, dass es nicht nur „interessant“ bedeutet, sondern sich auch kalligraphisch als äußerst interessant entpuppt. Es besteht nämlich aus den Komponenten 走 „laufen, zu Fuß gehen“ und 取 „holen, nehmen, bekommen“. Interesse weckt also, was man am Wegesrand entdeckt. Die Idee: man nimmt beim Gang durch die Welt ständig Neues auf. Diese Art, die Dinge semantisch zu sortieren, regte mich auf spannende Weise zum Nachdenken an.
Den richtigen Ton treffen heißt es nicht nur beim KTV: Die chinesische Aussprache will trainiert sein, sonst werden aus „Pandas“ (熊猫 xióngmāo) im Gespräch schnell mal versehentlich „Brusthaare“ (胸毛 xiōngmáo).
Doch aus Turteltauben-Erfahrung wissen wir: tritt man in einer Beziehung nach der ersten Honeymoon-Phase den Alltagstest an, kommt man in der Regel um ein gewisses Holpern nicht umhin. Das war bei mir auch bei der Liaison mit der chinesischen Sprache nicht anders. Glücklicherweise gilt aber auch hier: gerade dort, wo es verständigungsmäßig manchmal harkt und zwickt, lässt sich vieles Lernen – zum einen über die Kultur und Denkweise des Gegenübers, vor allem aber auch über sich selbst.
Bei meinen ersten Chinaaufenthalten stolperte ich dann auch tatsächlich zielsicher in so einige sprachliche Fettnäpfchen. Insbesondere die unterschiedlichen Tonhöhenverläufe sollten sich als heimtückisch erweisen. Ich erheiterte mein chinesisches Umfeld unter anderem mit der Aussage, nach Chengdu reisen zu wollen, um „Brusthaare“ (胸毛 xiōngmáo) anzuschauen (gemeint waren natürlich in Wirklichkeit Pandas (熊猫 xióngmāo) – ich hatte mich einfach im „Ton“ vergriffen). In einer Pekinger Parfümerie erklärte ich, ein Eau de Toilette rieche nach „Eichhörnchen“ (松鼠 sōngshǔ) und nicht wie beabsichtigt nach „Kiefer“ (松树 sōngshù). Meinem Vater verhalf ich bei einem Café-Besuch in den Hutongs zu einem als Salzkrug umfunktionierten Milchkännchen. Dem verunsicherten Kellner war wirklich kein Vorwurf zu machen. Schließlich hatte ich wiederholt auf die Bereitstellung eines selbigen insistiert (was ich eigentlich wollte, war natürlich kein Salzkrug 盐缸 yángāng, sondern schlicht ein Aschenbecher 烟缸 yāngāng). Auch auf der örtlichen Polizeistation sorgte ich einmal für Furore, als ich um die Verlängerung meines „Haftausweises“ (拘留证 jūliúzhèng) bat. Dabei wollte ich doch nur eine Neuauflage meiner Aufenthaltsgenehmigung (居留许可证 jūliúxǔkězhèng) beantragen.
Diese durchaus erheiternden Anekdoten illustrieren nur allzu gut, was in Sachen Verständigung so alles schief laufen kann, wenn man sich mit einer Fremdsprache und einem anderen Kulturkreis auseinandersetzt. Letztlich sind solche Tondreher aber natürlich nur die Spitze des Eisbergs. Wer intensiv ins Sprachenmeer eintaucht, wird feststellen, wie stark Kommunikation vom kulturellen Kontext und der Erfahrungs- und Gedankenwelt der Sprecher geprägt ist. Wer sich jedoch auf diesen sprachlichen Ritt einlässt und die Bereitschaft zeigt, aus eigenen Denkmustern auszubrechen und sich auf das Andere einzulassen, wird meiner Erfahrung nach reich belohnt, und zwar durch die Chance auf tieferes Verständnis nicht nur des Fremden, sondern auch des scheinbar Vertrauten, des Eigenen also.
Wie viel die chinesische Sprache über den Kulturraum China verrät und welch spannende Einblicke sie in die chinesische Denkweise bietet, zeigt sich beim Fremdspracherwerb in vielen Bereichen. Etwa beim Wortschatz. Wer sich durch die Welt der Teigwaren im Reich der Mitte schlemmen möchte, wird nämlich mit dem bei uns gängigen Wort „Nudel“ nicht weit kommen. Denn während wir im Deutschen alles als „Nudel“ bezeichnen, was nach Nudel aussieht (von der Glasnudel bis zur Reisnudel), unterscheidet der chinesische Feinschmecker hier penibel. Nudel (面条 miàntiáo) darf sich nur nennen, was aus Weizenmehl gemacht wurde. Nudelhafte Erzeugnisse aus Reismehl laufen dagegen unter dem Label 米线 mǐxiàn. Und wer „Glasnudeln“ zum Beispiel aus Kartoffelstärke in der Schale möchte, muss 粉丝 fěnsī ordern, um zum Ziel zu gelangen. Wir Deutschen outen uns auf Chinesisch also schnell als Nudelbanausen. Das „Nudel“-Wortfeld ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie sich der kulinarische Reichtum im Reich der Mitte auch sprachlich manifestiert hat.
Fruchtbarer Austausch entsteht im Gespräch: Auch in Zeiten von maschinellen Übersetzungstools ist das Fremdsprachenlernen eine Bereicherung, findet Verena Menzel. „Die Beschäftigung mit der chinesischen Sprache hat mich gelehrt, dass eigene Maßstäbe und Denkmuster längst keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben“, sagt sie.
Manchmal geben einzelne Worte also den Blick auf ein größeres Ganzes frei und verraten etwas darüber, wie andere Kulturen die Welt wahrnehmen. So auch im Falle chinesischer „Yin-Yang-Wörter“, wie ich sie nenne. Im Chinesischen gibt es nämlich eine ganze Reihe von Begriffen, die sich aus semantischen Gegensatzpaaren zusammensetzen, also aus Schriftzeichen mit konträrem Sinn. Sprachlich zusammengeschweißt entsteht aus ihnen eine neue, größere Bedeutung. Dazu zählen etwa Substantive wie „Größe“ 大小 dàxiǎo (wörtlich: groß - klein), „Länge“ 长短 chángduǎn (lang - kurz) oder „Anzahl, Menge” 多少 duōshǎo (viel - wenig).
Aha-Effekte versprechen auch Zeichenkombinationen wie 东西 dōngxi „Dinge” (Ost - West) oder 呼吸 hūxī „atmen“ (einatmen - ausatmen). Der „Lichtschalter“ heißt auf Chinesisch einfach „an – aus“ 开关 kāiguān. Und auch der Begriff „Gegensatz, Konflikt, Widerspruch“ 矛盾 máodùn ist passender Weise selbst ein solches Sprachspannungsfeld. Er setzt sich aus den Schriftzeichen für „Wurfspieß” (矛 máo) und „Schild” (盾 dùn) zusammen.
Bei genauerem Hinsehen zeigt dieser Wortbildungsmechanismus spannende Parallelen zur chinesischen Philosophie. In China nimmt man anders als im Westen Gegensätze nämlich traditionell nicht nur als diametrale Pole, sondern auch als aufeinander bezogene Kräfte wahr, die sich nicht zwangsläufig bekämpfen, sondern einander in gewisser Weise ergänzen. Widersprüchlichkeit muss also erst einmal nichts Negatives sein. Aus dem energiegeladenen Zusammenspiel des Verschiedenen entsteht aus chinesischer Warte meist Neues, ganz im Sinne des Yin und Yang in der chinesischen Philosophie eben. Der Erwerb der chinesischen Sprache macht diese Idee ganz praktisch im Alltag erfahrbar.
Ein potentieller Stolperstein im interkulturellen Austausch zwischen Deutschen und Chinesen ist das Thema Flexibilität – sowohl im privaten als auch im geschäftlichen Kontext. Die Deutschen sind als akribische Planer berüchtigt. Kein Schritt wird unternommen, ohne ausgeklügelte Vorbereitung und minutiöses Zeitmanagement. Das soll Unsicherheiten minimieren und die chaotische Welt – zumindest ein Stück weit – beherrsch- bzw. kontrollierbar machen (und ihr so den Schrecken nehmen). In China dagegen liebt man die Aktion und will schnelle Erfolge sehen. Erst einmal machen, heißt die Devise. Die Details werden dann im Prozessverlauf festgezurrt. Es ist ohnehin alles im Fluss, findet man in China, Änderungen sind da vorprogrammiert und der Wandel gilt als einzige Konstante. Wozu also Zeit mit übermäßiger Planungswut vergeuden? Auf Chinesisch nennt man dieses Prinzip übrigens 摸着石头过河 mōzhe shítou guò hé – „die Steine abtastend den Fluss überqueren“. Wo es wackelt, merkt man schließlich, sobald es soweit ist, und kann dann entsprechend reagieren.
Die Mentalitätsunterschiede, die hier in Bezug auf Flexibilität und Unsicherheitsvermeidung aufeinander prallen, zeigen sich spannender Weise auch beim Erwerb der chinesischen Sprache. Deutsche Wörter gehorchen vergleichsweise festen Wortklassen (z.B. Nomen, Verb oder Adjektiv). Um sie in „fremde“ grammatische Kategorien zu übertragen, bedarf es einiger sprachlicher „Anstrengungen“ (etwa durch Nominalisierung, Partizipbildung etc.). Im Vergleich dazu sind chinesische Worte wahre Wandlungskünstler. Viele Begriffe können gleichermaßen als Substantiv, Adjektiv oder Verb verwendet werden. Entscheidend sind der Kontext und die Wortstellung im konkreten Satz. Schrödingers Katze wird also erst im letzten Moment aus dem Sack, pardon aus der Box gelassen. Bis dahin lässt man sich lexikalisch alle Optionen offen.
Ein weiteres faszinierendes Feld ist das Universum der klassischen viergliedrigen Spruchweisheiten – der sogenannten Chengyu. In nur vier unscheinbaren Schriftzeichen fassen diese Redewendungen tiefere Weisheiten und Erfahrungswerte zusammen, die in China seit Jahrhunderten überliefert werden. Verstehen kann die Chengyu meist nur, wer auch die Geschichte hinter dem Spruch versteht. Oder wüssten Sie auf Anhieb, was gemeint ist, wenn ein chinesischer Bekannter im Falle eines Unglücks plötzlich aus heiterem Himmel erklärt: „Ein Alter verliert an der Grenze sein Pferd“ (塞翁失马 sàiwēngshīmǎ).
50 Jahre deutsch-chinesische Beziehungen und doch noch Bedarf, einander besser kennenzulernen: Mit ihrer Sprachwebsite „Niu Zhongwen“ möchte Verena Menzel Deutsche und Chinesen auf sprachlichem Wege näher zusammenbringen.
Hinter vielen dieser „Vierzeichern“ versteckt sich letztlich eine kleine Anekdote, ja manchmal sogar eine längere Geschichte. Wie im Falle des besagten Sinnspruchs, der auf die Erzählung eines Greises angespielt, dem sein Pferd im Grenzgebiet abhandenkommt, bevor es später mit einem Artgenossen im Schlepptau (und damit gewinnbringend) zurückkehrt, nur um wenig später wiederum den Sohn des Greises beim Reiten abzuwerfen, wobei sich dieser verletzt. Letztlich aber bleibt dem Spross durch den zugezogenen Knochenbruch die Teilnahme an einem tödlichen Gefecht erspart. „Ein Alter verliert an der Grenze sein Pferd“ lässt sich also in etwa mit „wer weiß, wofür es gut ist“ übersetzen – vorausgesetzt, man kennt die zugehörige Geschichte.
Das Besondere: die Anekdoten hinter gängigen Redewendungen wie dieser gehören für Chinesen zum Allgemeinwissen. Der entsprechende „Geschichtenkanon“ wird schon in Kindertagen vermittelt und geht damit in Fleisch und Blut über. Die Chengyu sind also quasi nur die zarten, schillernden Blüten, die sich an der sprachlichen Oberfläche tummeln. Darunter aber wurzelt ein – für uns Ausländer unsichtbares – dichtes Informationsgeflecht, das bei chinesischen Muttersprachlern quasi automatisch aktiviert wird, sobald sie eine der sprachlichen Chengyu-Blüten sehen. Hier zeigt sich letztlich eindrucksvoll die tiefe Verwurzelung der Chinesen in ihrem kulturellen Erbe, die sich faszinierender Weise selbst in der Semantik der Sprache niederschlägt.
Meine Romanze mit China und der chinesischen Sprache dauert nun schon über 15 Jahre an. Die offiziellen diplomatischen Beziehungen zwischen meiner Heimat Deutschland und meiner Wahlheimat China haben da schon deutlich mehr Jahre auf dem Buckel. Sie feiern in diesem Jahr ihr 50. Jubiläum. Meine Beschäftigung mit dem Chinesischen hat mich über die Jahre gelehrt, immer mal wieder einen Schritt zurück- und aus meinem eigenen gedanklich-kulturellen Bezugsrahmen herauszutreten, um das Gegenüber besser zu verstehen.
Gerade in Zeiten des World Wide Web, der Onlinewörterbücher und maschinellen Übersetzungstools sollten wir nicht vergessen, dass fruchtbarer Austausch und gelungene Kommunikation sich nicht auf Daten und Algorithmen reduzieren lassen. Am Schluss sind es immer noch Menschen aus Fleisch und Blut, die miteinander in Kontakt treten, und die einander verstehen müssen. Die Beschäftigung mit der chinesischen Sprache hat mich gelehrt, dass dabei die eigenen Maßstäbe und Denkmuster längst keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben. Auch in Zukunft sollten wir deshalb alles daran setzen, einander aufrichtig zuzuhören. Und dafür wird es nötig sein, auch manchmal interkulturell zwischen den Zeilen zu lesen. Die Beschäftigung mit der Sprache des Anderen kann da nur helfen. Ziel sollte es sein, immer wieder gemeinsame Worte zu finden und stetig im Gespräch zu bleiben, nicht nur auf dem diplomatischen Parkett, sondern auch im Zwischenmenschlichen und Privaten.
*Verena Menzel arbeitet als Übersetzerin und Redakteurin in Beijing und betreibt außerdem gemeinsam mit einer chinesischen Freundin das Sprachlernportal NIU ZHONGWEN (www.new-chinese.org) für Chinesisch als Fremdsprache.
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