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Helwig Schmidt-Glintzer: China ist mir ans Herz gewachsen

Von Helwig Schmidt-Glintzer  ·   2022-07-11  ·  Quelle:german.chinatoday.com.cn
Stichwörter: Deutschland;China
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Nach dem Abitur im Sommer des Jahres 1967 wurde mir klar, dass die Welt und die sie bewohnende Menschheit nicht nur aus Europa besteht. So begann ich, das Fach Sinologie zu studieren. Das Nachdenken über Sprache im alten China interessierte mich, und ich fragte mich, ob es dort auch so etwas gibt wie im Abendland die „Sophisten“. Der Sprachphilosophie oder dem Nachdenken über Sprache galt in jenen Jahren in Europa eine große Aufmerksamkeit. Die Werke von Ludwig Wittgenstein und Benjamin Whorf waren Gegenstand der Debatte in den Universitäten. In Göttingen verwies mich der dortige Sinologe auf einen Aufsatz über das Wort des Konfuzius zur „Berichtigung der Namen“ zhengming 正名. Ich lernte Klassisches Chinesisch ebenso wie die heutige Chinesische Umgangssprache. Viele hielten die Beschäftigung mit China für eine „brotlose Kunst“. Nachdem ich dann im Sommer 1968 in München mein Studium fortsetzte, wurde mir immer deutlicher, dass die Kultur und Geschichte Chinas ein lohnendes Feld seien. Aber wie würde ich nach China kommen können? Von dem Hamburger Publizisten Wolf Schenke erhielt ich die Adresse einer Hamburgerin, Lisa Niebank, die in Peking im Fremdsprachenverlag deutsche Übersetzungen anfertigte. Sie schrieb mir und schickte mir immer wieder Publikationen, die gerade erschienen waren. 

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer (im März 2020)  

Inzwischen hatte ich einen Traktat über die Unsterblichkeit der Seele, das Shenmie lun 神滅論des Fan Zhen gelesen und ich stieß auf die Debatten zwischen Buddhisten, Daoisten und Konfuzianiern, dokumentiert im Hongming ji 弘明集, einer Sammlung buddhistischer apologetischer Literatur aus der Zeit des Liang Wudi 梁武帝. Die Geistesgeschichte Chinas und die Bildungsgeschichte der Eliten, darunter auch die Rolle des Buddhismus in China, wurden mein Thema. Wolfgang Bauer unterstützte mich dabei, und ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes ermöglichte mir den sorgenfreien Abschluss der Dissertation, die ich 1972 einreichte. Nach der Promotion ging ich nach Taiwan in das Spracheninstitut der Furen-Universität in Xinzhu, um die chinesische Sprache zu trainieren. Nach einigen Monaten in der Academia Sinica in Nangang bei Taibei wechselte ich nach Kyoto in Japan, weil man dort besonders intensiv die Geschichte des Buddhismus in China erforschte. Herbert Franke hatte Fujieda Akira 藤枝gebeten, mich zu betreuen, der dann noch Makita Tairyo 牧田谛亮 hinzu zog. Das waren ideale Bedingungen im Jimbun kagaku kenyusho der Universität Kyoto (京都大學人問科學研究所). 

Im Frühsommer 1974 reiste ich über Korea, wo ich auch dem Tempel von Haeinsa mit den 81.340 Tripitaka-Druckplatten einen Besuch abstattete, und Taiwan nach Hongkong und von dort aus dann, gewissermaßen auf den Spuren Marco Polos, über Land durch Thailand, Birma, Indien, Afghanistan, Persien und die Türkei nach Deutschland zurück. Dort lebte ich zeitweise als freier Wissenschaftler, übersetzte die Werke des Mo Di ins Deutsche und arbeitete an den aus China und Japan mitgebrachten Materialien zur buddhistische Geschichtsschreibung in China. Daraus wurde das Buch Die Identität der buddhistischen Schulen und die Kompilation buddhistischer Universalgeschichten in China (1982). Die Vielfalt und der Facettenreichtum Chinas, die Lebenswelten der Menschen, vor allem der gebildeten Eliten, faszinierten mich immer wieder aufs Neue. Weil die Zahl der Sinologen und Sinologinnen in Deutschland, die bereit sind, sich auch auf Aspekte Chinas jenseits ihres eigenen Spezialthemas einzulassen, nicht sehr groß ist, habe ich mich immer wieder neuen Herausforderungen stellen müssen, so etwa dem Wunsch einer Synkretismus-Forschergruppe, über eine deutsche Übersetzung der in chinesischer Sprache überlieferten manichäischen Texte zu verfügen. Die Publikation „Chinesische Manichaica“, erschienen 1987, war das Ergebnis. 

Rolf Trauzettel hatte mich als Assistent an das Sinologische Seminar in Bonn geholt, damals Sitz der Bundesregierung, wo ich die Anfänge eines regen politischen Austausches zwischen der Volksrepublik China und der Bundesrepublik erlebte. Dort lernte ich dann auch Erwin Wickert kennen, mit dem ich bis zu seinem Tode im Jahre 2008 befreundet blieb. Im Jahre 1981 wurde ich als jüngster Ordinarius Bayerns an die Münchner Universität berufen, um die Nachfolge Herbert Frankes auf dem ältesten sinologischen Lehrstuhls in Bayern anzutreten. Ich reiste mehrfach nach China, erstmals 1980 und dann immer wieder und konnte so mit eigenen Augen sehen, wie sich China rasch veränderte und wie eine neue Gelehrsamkeit aufblühte. Als Gast des Amtes für Publikationswesen (chubanju 出版局) konnte ich im November 1982 eine ausgedehnte Reise durch China unternehmen. In Hangzhou wohnte ich mit Blick auf den Xihu 西湖, den Westsee, und von dort unternahm ich Exkursionen auf Landstraßen durch Reisfelder und Teiche mit Wasserbüffeln nach Shaoxing und Ningbo. Man versteht China besser, wenn man sich auf eine Region einlässt. Hangzhou war die Hauptstadt der Südlichen Song-Dynastie und Zhejiang ein Zentrum buddhistischer Kultur gewesen – und von dort aus gab es schon im Mittelalter einen regen Austausch mit der Welt, nach Japan, aber auch in den pazifischen Raum. Die Städte Taizhou 台州 und Wenzhou 溫州 sowie Ningbo an der Küste waren Zentren. Herausragende Berge wie der Tiantai 天台 und ihre Geschichte waren zu erforschen. Auf diese Region und ihre Gegenwart wollte ich mich einlassen. Ich wollte Regionalstudien betreiben, mit besonderem Interesse für die Provinz Zhejiang, und plante ein großes Projekt zur Bildungsgeschichte der chinesischen Eliten unter dem Thema „Politik, Öffentlichkeit und Moral in China – Zur Geschichte der chinesischen Öffentlichkeit“. Ein Resultat war eine „Geschichte der chinesischen Literatur von den Angängen bis zur Gegenwart“, die 1989 erschien und die inzwischen auch ins Chinesische übersetzt wurde. Mich faszinierte das Bild des kultivierten Edlen, des wenshi 文士, wie wir ihn auf unzähligen Tuschebildern sehen, manchmal auch nur in Gestalt eines Bambusstamms, der in der Tradition des junzi 君子 steht und der sich der Maxime des Konfuzius he er bu tong 和而不同 verpflichtet fühlt. Und das heißt nicht Rückzug, sondern die Bereitschaft, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. 

Dies ist es, was im alten China mit ren , im Deutschen oft mit „Menschlichkeit“ übersetzt, eigentlich gemeint war. Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen. Was wir aber gewiss brauchen, heute wie vor Jahrhunderten, ist verantwortliches Handeln und aufrechte Rede. In der Ausbildung der politischen Kultur hat dieses Zusammenspiel von Rede und geschriebenem Text und entsprechendem Handeln in China immer eine ganz große Rolle gespielt. Die hohen Standards der kulturellen Tradition und der Persönlichkeitsbildung in China werden immer wieder aufgerufen und sind bis heute im Bewusstsein der Gebildeten präsent. Dabei verdient es hervorgehoben zu werden, dass China in dem Modernisierungsprozess seine Vergangenheit nicht vollkommen hinter sich lässt, sondern sich auf wesentliche Züge seiner Vergangenheit stützt. Ein starker Optimismus ist die Grundfärbung der chinesischen Kultur und der Glaube an die Bildungsfähigkeit des Menschen, der allerdings des Lehrers bedarf, ganz nach der Devise des Konfuzius „Unter drei Weggefährten findet sich sicher ein Lehrer“. 

 

Helwig Schmidt-Glintzer mit Mo Yan am 3. Dezember 2013 in Peking in der Großen Halle des Volkes  

Weitere Reisen folgten. Zur 35-Jahr-Feier am 1. Oktober 1984 war ich selbst in Peking als einer der wenigen ausländischen Gäste auf der Tribüne am Tiananmen. Die ersten Früchte der wirtschaftlichen Reformen waren mit Händen zu greifen. Ich besuchte Lanzhou und Dunhuang mit den buddhistischen Höhlentempeln, doch ließen mich die Gedanken an den Zhijiang 之江, an die Ufer des Qiantangjiang, des größten Flusses der Provinz Zhejiang, nicht los. Es waren Bilder von Gestalten am Wasser, von Einsamkeit, einem Angler oder Fischer, wie wir sie aus einer weit über tausend Jahre praktizierten Landschaftsmalerei in China kennen, aus jener Tradition der Wahrnehmung von Mensch und Umwelt, wie sie in Europa erst sehr viel später – und zwar unter chinesischem Einfluss – aufkam. 

So blieb die chinesische Tradition aufgerufen, zugleich aber auch das Nachdenken der Reformer und der Revolutionäre im 20. Jahrhundert, und immer ging es ebenso wie im Europa der Aufklärung darum, wie das Sittengesetz in den Herzen der Staatsbürger zu verankern wäre. Denn darum geht es doch überall in der Welt. Dabei blieb die Sehnsucht nach der Heimat immer die Kehrseite der Pflichterfüllung. Sie hat auch Eingang in das von Gustav Mahler vertonte Lied Von der Jugend des Li Bai 李白 (701-762) gefunden, der sich auf Shi Chong 石崇 (249-300) und dessen Pavillon im Goldenen Tale beruft. Solche Gefühle sind ernst zu nehmen und sie brauchen Zuwendung und Ausdruck, an den Ufern des Zhijiang ebenso wie in allen Regionen Chinas. 

Ich selbst war inzwischen längst mit Historikern ins Gespräch getreten, auch mit Soziologen und war Mitglied im Kreis der Herausgeber der Max Weber-Gesamtausgabe. So empfand ich es als Herausforderung, im Jahre 1993 in der Nachfolge großer Namen, darunter Gottfried Wilhelm Leibniz und Gotthold Ephraim Lessing, die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel als ihr Direktor zu einer Forschungs- und Studienstätte für Europäische Kulturgeschichte auszubauen. Ich ging also nicht an die Ufer des Zhijiang, sondern an die Oker, die im Harz ihren Ursprung hat. Manche wunderten sich, dass ein Sinologe dieses Amt übernahm. Aber mir wurde bald klar, dass die europäische Kulturgeschichte und Europa überhaupt gar nicht zu verstehen sind ohne einen globalen Blick. Früh spürte ich, was kürzlich einmal Fabian Heubel 何乏, ein junger Sinologe und Philosoph, treffend formulierte, als er sagte: »Ein Weg, um Europäer zu werden, ist, Chinese zu werden 

Inzwischen ist mir China ans Herz gewachsen, und ich bin sicher, dass China für Europa und besonders für Deutschland auch in Zukunft ein wichtiges Partnerland ist, weil wir unser Weltbürgertum im Sinne der europäischen Aufklärung nur verwirklichen können, wenn wir die Traditionen anderer Kulturen ebenso wie die eigene Kultur verstehen. Dabei ist es nicht nur wichtig, dass wir miteinander im Gespräch bleiben, sondern dass wir uns mit den eigenen wie mit den chinesischen Traditionen reflexiv und kritisch auseinander setzen. Längst ist klar, dass die Menschheit als ganze sich um ihre Zukunft sorgen muss. Dies kann nur gelingen, wenn wir unsere jeweiligen eigenen Interessen mit den Interessen aller anderen verbinden und harmonisieren. Leider wird dies von vielen noch nicht verstanden. Dabei werden wir vieles nicht in einer Generation schaffen. Uns geht es wie dem Alten in der Geschichte „Yu Gong versetzt Berge“ (愚公移山), wir müssen uns auf die kommenden Generationen verlassen. 

Nach über einem halben Jahrhundert der Beschäftigung mit China, seiner Geschichte und Gegenwart hat sich einerseits durch die Digitalisierung vieles geändert. Die Kontakte sind enger geworden, doch haben sich die wirtschaftlichen und politischen Spannungen verschärft, und es wird immer deutlicher, dass oftmals die Rivalitäten zwischen den Ländern die eigentlich wichtigen Aufgaben, mit denen sich die Menschheit auseinanderzusetzen hat, in den Hintergrund drängen. Doch die vielfältigen Begegnungen mit chinesischer Geistigkeit, mit Gelehrten und Literaten, Politikern und Künstler der Gegenwart wie der vergangenen Jahrhunderte, aber auch mit Studierenden haben eine Liebe zu Menschlichkeit in China ebenso wie zu den eigenen Dichtern und Denkern entstehen lassen, die mich weiterhin optimistisch stimmen, dass wir das humanistische Vermächtnis unserer Völker weiter pflegen und zur Grundlage für eine gemeinsame Zukunft machen können. 

*Helwig Schmidt-Glintzer ist ein deutscher Sinologe und war von 1993 bis 2015 Direktor der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. Seit 2016 ist er Direktor des China Centrum Tübingen (CCT). 

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