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Altes Erbe, neue Zugkraft: Chinas Kulturtourismus entdeckt das Potential des Industrieerbes |
Von Li Cungen · 2022-05-31 · Quelle:China Heute |
Stichwörter: Kultur;Tourismus | Druck |
„In den Himmel fliegender Schnee“ (Xuefeitian) heißt die Skisprungschanze im Beijinger Shougang-Park ganz wörtlich. Die Anlage war eine der Wettbewerbsstätten bei den diesjährigen Olympischen Winterspielen in der Hauptstadt. Für den alten Industriepark waren die Spiele ein echter Glücksfall. Das sportliche Großereignis hat dem Areal neues Leben eingehaucht. Heute ist der Park mit seinem rauen Industrieflair zu einem Touristenmagnet gereift und fungiert zugleich auch als ein Modell für den Schutz und die Entwicklung des industriellen Erbes im Land. Er liegt damit voll im Trend. Denn vielerorts in China hat der Industrietourismus in den letzten Jahren eine rasche Entwickelung erfahren.
Was versteht man unter Industrieerbe?
Der Begriff Industrieerbe wurde 2003 auf dem Internationalen Kongress für den Schutz des Industrieerbes (TICCIH) definiert. Demnach umfasst das industrielle Erbe nicht nur alte Gebäude und Maschinen, Werkstätten, Fabriken, Bergwerke und Lagerhäuser, sondern auch Geschäfte, Verkehrsinfrastruktur und andere Orte sozialer Aktivitäten, die im Zusammenhang mit der industriellen Produktion stehen. Beim Industrieerbe handelt es sich also um eine Art Kulturerbe von historischem, technischem, gesellschaftlichem, architektonischem und wissenschaftlichem Wert.
Einst war es Großbritannien, das Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals damit begann, dem Schutz des Industrieerbes gezielte Aufmerksamkeit zu schenken. Der Industrieerbe-Tourismus wurde in der Folge als Teil des Kulturerbe-Tourismus klassifiziert. Heute erlebt der Bereich in vielen Ländern einen Boom.
China entdeckte diese Tourismussparte um die Jahrtausendwende für sich und begann allmählich mit dem Schutz und der Entwicklung alter Industriestätten im Land. Zunächst lernte man dabei von den Erfahrungen des Auslandes. Man erforschte insbesondere den Industrieerbe-Tourismus in ehemaligen Industrie- und Bergbaustädten. Dann sammelte China erste eigene Erfahrungen in Theorie und Praxis aus verschiedenen Perspektiven.
Industrieller Charme trifft Hippsterkultur: Alte Industriegebäude im Bauhaus-Stil im Beijinger Künstlerviertel 798.
2017 dann gab China seine erste Liste mit zehn Stätten für Industrieerbe-Tourismus und nationalen Tourismusbasen für Industriekultur bekannt. Im selben Jahr wurde die erste Gruppe von Unternehmen, die als nationales Industrieerbe anerkannt wurden, bekannt gegeben, darunter 13 alte Staatsbetriebe wie das Eisen- und Stahlwerk Anshan oder das Eisenwerk Hanyang. Insgesamt 166 Betriebe wurden so bis heute in die Liste der fünf Chargen des nationalen Industrieerbes aufgenommen.
2018 wurde die erste Reihe an Listen zum Schutz des nationalen Industrieerbes veröffentlicht. Mittlerweile hat China schon zwei solcher Aufstellungen mit insgesamt 200 gelisteten Stätten publiziert. Sie enthalten sowohl ehemalige Staatsunternehmen, die in der späten Qing-Dynastie während der Verwestlichungsbewegung gegründet wurden, als auch Fabriken aus 156 Schlüsselbauprojekten, die nach der Gründung der Volksrepublik entstanden.
2021 gaben das Ministerium für Industrie und Informationstechnologie, die Staatliche Verwaltung des Kulturerbes und andere Behörden des Landes ein gemeinsames Dokument heraus, das die Lokalregierungen bei der Entwicklung von Industrietourismusprojekten auf Grundlage des lokalen industriellen Erbes und besonderer Ressourcen anleiten und unterstützen soll.
Die städtische Erinnerung wecken
Durch den Schutz und die Nutzung alter Ressourcen ist es vielerorts gelungen, das industrielle Erbe in eine neue urbane Szenerie zu verwandeln. Es trägt nun nicht nur dazu bei, den Menschen die alte Industriekultur näher zu bringen, sondern kurbelt auch kräftig die Freizeit- und Tourismusindustrie an. Alte Industrieareale werden somit zur Sehenswürdigkeit.
In den letzten Jahren wurde auf diese Weise ein Teil des brachliegenden industriellen Erbes in den Städten und in ihrem Umland allmählich in Kulturtourismusprojekte umgewandelt. Diese Projekte bewahren nicht nur die historische Erinnerung der Städte, sondern sind auch zu einem neuen Raum für die Menschen gereift, um neue Tourismuserlebnisse zu genießen. Gute Beispiele hierfür sind neben dem eingangs erwähnten Shougang-Park in Beijing etwa die Power Station of Art in Shanghai und andere Industrietourismuslandschaften, die immer mehr Besucher anziehen.
Chinas Hauptstadt gilt als Vorreiter, was den Schutz, die Entwicklung und die Nutzung des Industrieerbes angeht. Als Austragungsort der Winterolympiade ging der Shougang-Park in den sozialen Netzwerken im In- und Ausland viral. Die Internetnutzer zeigten sich fasziniert von der Transformationsgeschichte der über ein Jahrhundert alten Stahlfabrik. Im Rahmen der Spiele wurde der Park noch einmal ordentlich aufgepeppt. Am 1. März wurde der Park für Extremsportarten eröffnet, in dem man heute skateboarden und klettern kann. Er ist eine neue beliebte Location für trendige Events. In Zukunft will der Shougang-Park weitere Investitionen anziehen. Das Erbe der Olympiade soll der gesamten Region neue Dynamik einhauchen und die Entwicklung langfristig beflügeln.
In Shanghai hat einst die erfolgreiche Ausrichtung der Shanghai World Expo neue Wege für den Schutz und die Nutzung des städtischen Industrieerbes gebahnt. Die Power Station of Art ist Ergebnis des Umbaus und der Erweiterung des Urban Future Pavilions der Weltausstellung. Der Expo-Pavillon ist einst rund um das Hauptfabrikgebäude und den Schornstein des alten Nanshi-Kraftwerks aus dem Jahr 1985 entstanden. Heute ist das Areal eine öffentliche Kulturplattform voller Atmosphäre und künstlerischem Charme. Eine ähnliche Metamorphose hat auch das Shanghai Museum of Glass hinter sich. Es ist auf dem ehemaligen Areal der Shanghai First Glass Instrument Factory entstanden. Glas ist hier heute ein Schlüsselelement des künstlerischen Ausdrucks und der Architektur. Besucher finden hier viele interaktive und spannende Aktivitäten rund um das Thema Glas. Das Museum leistet mit seinen innovativen Angeboten Pionierarbeit und hat erfolgreich ein interaktives internationales Erlebnismuseum geschaffen, von dem auch die angrenzenden Wohnviertel profitieren.
Das im Bezirk Yuzhong von Chongqing gelegene Testbed 2 Art Center ist in den ehemaligen Räumlichkeiten der Banknotendruckerei der Zentralbank der Republik China untergebracht, die nach Gründung der Volksrepublik China in „Chongqinger Druckerei Nr. 2“ umbenannt wurde. Nachdem sich das Gelände zunächst einen Namen als Drehort für Film- und Fernsehproduktionen gemacht hatte, zieht es mittlerweile viele Touristen an. Sie fasziniert besonders der scharfe Kontrast zwischen der Form des alten Fabrikgebäudes und des modernen Antlitzes des Interieurs.
Mehr als nur kühle Erfrischung: Touristen erfahren in der Tsingtao-Brauerei mehr über deren Geschichte.
Die Tsingtao-Brauerei gründete schon vor einigen Jahren das Tsingtao Beer Museum. Es setzt auf eine Kombination aus Tourismus und kreativer Kulturwirtschaft. Neben weltbekannten Brauereiprodukten und dem landesweit bekannten Bierfestival ist für Touristen heute auch ein Besuch im Qingdao Beer Museum ein fester Bestandteil jeder Qingdao-Reise. Hier kann man mehr als 500 Arten kreativer Bierkulturprodukte bestaunen – von Spielzeug, Lebensmitteln, Wohnutensilien bis hin zu Dekorationen. Damit begeistert die Einrichtung Besucher aller Altersgruppen.
Die Shaanxi Baoji Changleyuan Anti-Japanese War Industrial Site ist der am vollständigsten erhaltene Industriekomplex aus der Zeit des Widerstandskrieges gegen die japanische Aggression. Das Areal setzt auf Hightech, sodass Touristen Filmelemente in den Ruinen der alten Gebäude sehen können. Mithilfe einer speziellen Lichtanlage werden außerdem Nachttouren angeboten.
Sanierung im Einklang mit den lokalen Gegebenheiten
Wie sich das industrielle Erbe in und um eine Stadt schützen und nutzen lässt, war schon immer ein Thema von großem Interesse für Forschung und Politik. Wen Tong, Professor an der Jinan University in Guangzhou, sagt, in der Anfangszeit habe China große Inspiration aus den Schutzanstrengungen des Industrieerbes im Ausland gezogen. Später habe man begonnen, eigene Innovationen auszuloten.
Wen ist überzeugt, dass es notwendig ist, das industrielle Erbe wiederzubeleben und gut zu nutzen. Die Planung sollte dabei auf die örtlichen Verhältnisse abgestimmt sein und auch dem Zustand der alten Anlagen Rechnung tragen. „Es gibt viele Beispiele, wie dies gelingen kann“, sagt der Experte. „In Guangdong zum Beispiel wurde der neue Qijiang-Park der Stadt Zhongshan erfolgreich mit der alten Werftlandschaft kombiniert. Ein weiteres Vorbild ist die Aufwertung der alten Butterfield & Swire’s Godowns & Wharf – auch als Taigucang Creative Park bekannt – in Guangzhou durch kulturelle Einrichtungen wie Kinos und Restaurants und sogar die Umwandlung örtlicher Fabriken in Museen.“
Weihnachten mit industriellem Flair: Touristen tummeln sich am 24. Dezember 2020 im Kreativpark von Butterfield & Swire’s Godown & Wharf in der Metropole Guangzhou.
Guangzhou hat eine tief verwurzelte Industriekultur. Bis Ende 2020 wurden mehr als 200 Gebäude des Industrieerbes der Stadt und mehr als 40 industriehistorische Landschaftsgebiete in die Liste des industriellen Erbes aufgenommen. Die im Laufe der Zeit gewonnenen Daten bieten die Grundlage für die nächsten Schritte wie Planung, Klassifizierung und Schutz sowie auch die effektive Nutzung des Industrieerbes.
Der 1904 gegründete Standort von Butterfield & Swire’s Godown & Wharf in Guangzhou war einst der geschäftigste Kai im inneren Hafengebiet der Stadt und gleichzeitig ein wichtiges Symbol des Außenhandels in der Moderne. Seit 2008 sind hier nun Büros junger Kreativer untergebracht, es gibt Ausstellungen, Theateraufführungen, Catering und andere neue Formate der Raumnutzung. Die Zahl der Besucher hat sich daraufhin vervielfacht.
Professor Wen sagt, dass bei der Erhaltung und Entwicklung des industriellen Erbes auch die Weiterentwicklung der Themen rund um das Industrieerbe berücksichtigt werden sollte. Als Beispiel nannte er den „Tourismuspfad der Industriekultur“ in Deutschland, bei dem es sich um das Ruhrgebiet handle. Dieses sei durch Verkehrsknotenpunkte miteinander verbunden, wodurch den Besuchern eine umfassende Einführung in die jahrhundertelange Entwicklung der deutschen Industriegeschichte in den Bereichen Kohle, Hafen und Eisen gegeben werde. „Das ist quasi wie ein Lehrbuch der industriellen Zivilisation“, lobt Wen das Konzept.
*Li Cungen ist Reporter der „Yangcheng Evening News“.
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