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45 Jahre Reform und Öffnung: Modernisierung bedeutet nicht automatisch Verwestlichung |
Von Uwe Behrens · 2023-12-22 · Quelle:german.chinatoday.com.cn |
Stichwörter: Reform;Öffnung;Modernisierung | Druck |
Ein Blick auf den Sport: Chinas Village Basketball Association organsiert Amateur-Turniere in Guizhou. Das von den Einheimischen selbst organisierte Sportevent zieht zahlreiche Teams und Zuschauer an. Unser Bild zeigt das Finale der ersten Auflage des Basketballturniers „Schöne Dörfer“ am 27. März im Dorf Taipan. (Foto: Ou Dongqu/Xinhua)
Rund 30 Jahre nach ihrer Gründung war die Volksrepublik China noch immer ein weit rückständiges Entwicklungsland. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf betrug nicht einmal zwei Prozent dessen der USA und nur zehn Prozent des BIP der ehemaligen Sowjetunion. Über 80 Prozent der Chinesen lebten damals auf dem Land, ein großer Teil der Bevölkerung waren Analphabeten. Die Wirtschaft war nach den Turbulenzen des „Großen Sprungs“ und der Kulturrevolution geschwächt. Das war die Lage, der sich das Volk und die Kommunistische Partei 1978 gegenübergestellt sahen.
Die neue Führung der KP Chinas um Deng Xiaoping musste den Balanceakt vollbringen, die großen Verdienste Maos anzuerkennen, Fehler zu benennen aber nicht zu überbewerten und zugleich Lösungswege für die Zukunft zu finden. Es gab für die anstehenden Reformen keinen Masterplan. Das Motto lautete: Die Praxis beweist, ob die eingeschlagene Politik sich bewährt und erfolgreich ist. Deng prägte den heute oft zitierten Satz: den Fluss überqueren, indem man sich auf den Steinen vortastet!
Das dritte Plenum des 11. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas beschloss Ende 1978, den Arbeitsschwerpunkt der Partei auf den sozialistischen Modernisierungsaufbau zu setzen. Damit wurde eine historische Wende vom Klassenkampf als Leitlinie zum Wirtschaftsaufbau als Mittelpunkt vollzogen.
Eine der grundlegenden Lehren der KP Chinas fußt auf der sogenannten dialektischen Widerspruchslehre von den Haupt- und Nebenwidersprüchen. Der Hauptwiderspruch des Klassenkampfes der Jahre vor 1978 – zwischen Proletariat einerseits und Bürgertum andererseits – galt als überwunden. Als neuer Hauptwiderspruch wurde auf dem sechsten Plenum die Diskrepanz zwischen den täglich wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnissen der Bevölkerung und den rückständigen Produktivkräften der Gesellschaft gesehen.
Die Reform der Auflösung der Volkskommunen und die Übertragung der Nutzungsrechte auf die Bauernfamilien wurden zuerst ab 1980 in Dörfern der Provinzen Sichuan und Anhui getestet. Das war der Startschuss für ein schnelles Wachstum der chinesischen Landwirtschaft und letztlich auch für die Industrialisierung.
Durch die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität wurden Arbeitskräfte freigesetzt, die in lokalen Produktionseinheiten Güter des täglichen Bedarfs herstellen konnten. In der Folge erwirtschafteten Dörfer bescheidenen Reichtum und erweiterten ihre Möglichkeiten auf den Märkten. Andere freigesetzte landwirtschaftliche Arbeitskräfte wanderten in die Küstenregionen und die neu entstehenden Sonderwirtschaftszonen ab. Die Periode der Arbeitsmigration begann.
Nach der erfolgreichen Reformierung der Landwirtschaft nahm die KP Chinas gemeinsam mit den Arbeitern und Ingenieuren die Reform der Industrie in Angriff. Man bemühte sich, moderne Technologien einzuführen und Industriezweige, nachdem sie zu mehr Konkurrenzfähigkeit hin umgestaltet worden waren, dem Weltmarkt zu öffnen.
1988 wurde der Status der privaten Unternehmen offiziell anerkannt. In den strategisch wichtigen Industriezweigen waren neben den Staatsbetrieben nur Joint Ventures mit einer über fünfzigprozentigen staatlichen Beteiligung und einer Minderheitsbeteiligung ausländischen Kapitals zugelassen. Staatsbetriebe, die bislang die Grundsicherung der „eisernen Reisschüssel“ garantierten, begannen, versuchsweise in Aktiengesellschaften mit staatlicher Mehrheit umgewandelt zu werden.
2017 zählte Chinas Nationales Statistikamt 27 Millionen private Firmen und 65 Millionen individuelle Gewerbetreibende. Die nicht-staatseigenen Unternehmen tragen heute zu 60 Prozent des BIP, 70 Prozent der technologischen Innovationen, 80 Prozent der städtischen Beschäftigung und 90 Prozent der gesamten Unternehmen in China bei.
Die großen staatseigenen Betriebe sind wesentlich in Sektoren der Grundversorgung der Gesellschaft tätig, darunter Infrastruktur, Telekommunikation, Energieversorgung, Finanz- und Versicherungswesen, Gesundheitswesen und Pharmazie. Statt der Erzielung maximalen Profits besteht die Aufgabe dieser Unternehmen darin, das wirtschaftliche Rückgrat der sozialistischen Wirtschaft zu bilden, die Stabilität des Staates und die Grundabsicherung der Gesellschaft zu garantieren – entsprechend der Politik der KP Chinas.
Seit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik 1978 musste China den Balanceakt vollführen, im eigenen Land ein Gleichgewicht zwischen kapitalistischen Marktwerkzeugen zur schnellen Erhöhung der Produktivität und den sozialistischen Prinzipien des Aufbaus einer sozialen, gerechten Gesellschaft herzustellen.
China hat den nationalen Markt nicht dereguliert, im Gegenteil: Der Staat und die KP Chinas haben Reformen durchgesetzt, um den Markt mittels staatlicher Eingriffe im Interesse der Erhöhung des Wohlstandes zu regulieren. Seitens der USA und der westlichen Länder in der Hoffnung, dass China mittels der Strategie des „Wandels durch Handel“ vom Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft abgebracht werden könne. Das chinesische Volk und die Führung der KP Chinas aber haben zu keinem Zeitpunkt das Bekenntnis zum Marxismus und zur Sicherung der kommunistischen Regierung in Frage gestellt.
Nur einige wichtige Etappen seien genannt:
1979 – Erhöhung der landwirtschaftlichen Einkaufspreise
1980 – Einrichtung der Sonderwirtschaftszonen in Shenzhen, Zhuhai, Shantou und Xiamen
1983 – Besteuerung staatlicher Wirtschaftseinheiten
1988 – Entwicklung der Privatwirtschaft wird rechtlich erlaubt
1992 – Einführung der sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung
2001 – Beitritt in die WTO
2010 – Chinas BIP übersteigt das japanische, Chinas Volkswirtschaft klettert damit weltweit auf Rang 2
2013 – Startschuss für die Seidenstraßeninitiative (Belt-and-Road-Initiative)
Heute, 45 Jahre nach der Einführung der Reform und Öffnung, ist Chinas Pro-Kopf-BIP von 156 US-Dollar im Jahr 1978 auf nun über 12.000 US-Dollar gestiegen und die jährlichen Zuwachsraten des BIP liegt bei zirka neun Prozent. Das stellt für eine Volkswirtschaft eine einmalige Leistung dar.
In den vergangenen Jahren konnte das Land nicht nur die absolute Armut überwinden, sondern sich auch eine moderne Infrastruktur, ausreichend Wohnraum und ein gerechtes Sozialsystem aufbauen. Basierend darauf ist China heute führend in innovativen Wirtschaftszweigen wie der Automobilindustrie oder den Feldern der erneuerbaren Energien, der Elektronik und Robotik oder der Raumfahrttechnik. China tritt für eine multilaterale Weltordnung ein, um durch internationale Zusammenarbeit, eigene Innovationen und weitere, dem eigenen Entwicklungsstand angepasste Reformen bis 2049 – dem 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik – zu einem starken, modernen sozialistischen Land heranzuwachsen.
Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es ausgeweiteter Öffnung und vertiefter Reformen. Waren in den zurückliegenden Jahren die treibenden Wirtschaftszweige die Immobilienwirtschaft, die verarbeitende Industrie und der Aufbau der Infrastruktur, so können damit heute keine hohen Produktivitätszuwächse mehr erwirtschaftet werden. Staatspräsident Xi Jinping betonte auf dem XX. Parteitag die zunehmende Bedeutung von Wissenschaft und Technologie als erste Produktivkraft, von Talenten und Fähigkeiten der chinesischen Bevölkerung als erste Ressource bzw. Quelle und von Innovationen als erstem Treiber des Wachstums. Die Wirtschaftsentwicklung vom quantitativen hin zum qualitativen Wachstum wird Raum geben für die Industriezweige des 21. Jahrhunderts, verbunden mit einer Erhöhung des Lebensstandards für die gesamte Bevölkerung, einer sozialistischen Gesellschaft chinesischen Charakters.
Um es mit den Worten von Staatspräsident Xi Jinping aus dem Februar dieses Jahres auf den Punkt zu bringen: Chinas Fortschritt hat eindeutig bewiesen, dass Modernisierung nicht mit Verwestlichung gleichzusetzen ist. Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.
*Uwe Behrens ist langjähriger Chinakenner und war 27 Jahre unter anderem in China und Indien als Logistikmanager tätig.
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