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Eine Geschichte aus zwei Städten |
Von Zhao Piao · 2018-07-09 · Quelle:Beijing Rundschau |
Stichwörter: Reform und Öffnung;Bodenreform;China | Druck |
Im Juni ist der Hochsommer noch nicht wirklich in Beijing angekommen. Ein leichter Wind am Spätnachmittag verweht die Müdigkeit der Menschen, die den ganzen Tag hart gearbeitet haben. Nach Feierabend hatte auch Yang Fu einen besonders leicht Tritt, da er sich nun endlich auf den Weg in die Heimat machen konnte.
„Mein Zuhause ist sowohl in Beijing als auch in meiner Heimatprovinz Shanxi. Heute werde ich aber in meine alte Heimat reisen“, sagte Yang beim Interview mit der Beijing Rundschau.
Der 40-jährige Yang wurde in einem Jahr geboren, das für ganz China außergewöhnlich und bedeutungsvoll war. Genau wie zahlreiche andere Leute, die – oft nur mit ihren Träumen im Gepäck – aus dem ganzen Land nach Beijing strömen, ist Yang Fu auch einer von Millionen Wanderarbeitern in Beijing. Einige von ihnen kamen und gingen wieder, andere ließen sich hier nieder, wieder andere eilen zwischen Beijing und ihrer Heimat hin und her und führen so ihre eigene, moderne Version der „Geschichte aus zwei Städten“ auf.
Der „Glücksstern“ der Familie
Im Sommer 1978 konnte sich die Familie Yang im Dorf Gejiatun des Kreises Tianzhen in der nordchinesischen Provinz Shanxi erneut über Nachwuchs freuen. Doch noch während sich die ganze Familie darüber freute, stiegen in ihren Mitgliedern auch die Sorgen auf: die sechsköpfige Familie lebte damals in nur eineinhalb Zimmern in einem großen gemischten Wohnhof mitten im Dorf. Mit dem neugeborenen Familienmitglied schien die Last des Lebens zunächst einmal noch deutlich größer geworden zu sein.
Was später geschah, bewies jedoch, dass mit der Ankunft dieses Neugeborenen keine Belastung für die Familie einhergehen sollte, sondern Glück und Wohlbefinden.
Im Winter desselben Jahres unterzeichneten 18 Bauern im Dorf Xiaogang des Kreises Fengyang in der ostchinesischen Provinz Anhui trotz Lebensgefahr ein geheimes Abkommen zur Verteilung des gemeinsamen Ackerlandes an die einzelnen Haushalte der Kommune, wodurch ein Präzedenzfall für das System des Produktionsertrags auf Basis der Haushalte geschaffen wurde. Kurze Zeit später verbreitete sich diese ländliche Bodenreform von Xiaogang aus in ganz China. Bis 1982 wurde das System in über 95 Prozent der ländlichen Gebiete eingeführt und die Landfläche, die von privaten Haushalten bewirtschaftet wurde, machte bald schon 97 Prozent der gesamten Anbaufläche aus.
„Meiner Familie wurde 1983 Ackerland zugeteilt. Mit dem Land hat sich das Leben der Familie wirklich verbessert“, sagte Yang Fu. Er erinnerte sich daran, dass er in seiner Kindheit oft Wildkräuter und Kleie essen sowie geflickte Kleidung tragen musste, weil seine Familie in armen Verhältnissen lebte. Nachdem das Land zugeteilt worden war, pflanzte die Familie Weizen, Kartoffeln und verschiedene Getreidearten an – und konnte so nicht nur das Problem der Lebensmittel- und Kleidungsknappheit lösen, sondern auch jedes Jahr etwas Geld sparen.
Im Jahr 1990 kaufte Yang Fus Familie ein Haus mit sechs Zimmern im Dorf und zog schließlich aus dem überfüllten Hof in das Haus. Als er auf seinem eigenen, breiten Bett in seinem neuen Zuhause lag und sich an die alte Zeit erinnerte, in der alle sieben Familienmitglieder auf einem Bett geschlafen hatten, konnte der damals 12-Jährige Yang Fu zum ersten Mal die Ergebnisse der Reform und Öffnung selbst fühlen und sehen – und das machte ihn wirklich glücklich.
„Das ist der Grund, warum ich ‚福,Fu‘ (dt. Glück) heiße. In meiner Kindheit hatten die meisten Kinder in ländlichen Gebieten am Anfang nur Milchnamen [Kinderkosenamen]. Als ich zur Schule gehen sollte, haben meine Eltern mich ernsthaft auf den Namen Fu getauft. Zudem haben viele Leute, die im Jahr 1978 geboren wurden, in ihren Namen das Schriftzeichen ‚Fu‘. In der Firma kenne ich einen Kollegen, der genauso alt ist wie ich und der auch den gleichen Namen hat“, sagte Yang Fu lachend.
Nach der guten Maisernte im Herbst waren die Lagerbehälter auf dem Hof von Yang Fus Familie im Winter 2016 bis zum Bersten gefüllt. (Foto: Yang Fu)
Die Heimat verlassen
Während sich die Lebensqualität der Familie immer weiter verbesserte, wurde Yang Fus Vater plötzlich schwer krank. Um den Vater zu heilen, gab die Familie insgesamt zweitausend Yuan aus. Diese damalige Unsumme brachte die Familie erneut in eine schwierige Situation. Um die Familie zu entlasten, beschloss Yang Fu, nach dem Abschluss der Mittelschule nicht zu studieren,sondern mit der Arbeit zu beginnen und Geld zu verdienen.
„Nach der Reform und Öffnung hat das Ausmaß der Bevölkerungsfluktuation stark zugenommen. Auch die Denkweise der Menschen hat sich verändert. Immer mehr junge Leute gehen in die großen Städte, um einen Job zu finden. Meine Mutter hat mich damals auch dabei unterstützt, nach Beijing zu gehen“, sagte Yang Fu. So verließ der damals 17-Jährige Yang Fu im Jahr 1995 zum ersten Mal seine Heimat.
Sein erster Job in Beijing war der eines Verkäufers im Getreidebüro des Bezirks Chaoyang, wo er sechs Jahre lang arbeitete. „Zu der Zeit war die Arbeit im Getreidebüro relativ stabil. Außerdem arbeitete ich sehr hart und das Einkommen war auch gut. Ich habe im ersten Jahr 5.000 Yuan gespart“, sagte Yang Fu. Seiner Ansicht nach waren die ersten sechs Jahre in Beijing eine schöne Zeit.
Mit der rasanten Entwicklung der Marktwirtschaft in China seit dem Jahr 2000 wurde Yang Fu immer bewusster, dass das Nahrungsmittelproblem in China nicht mehr das wichtigste Thema war und die Lebensmittelindustrie wohl keine guten Aufstiegschancen mehr bieten würde. So kündigte er 2001 seine Stelle beim Getreidebüro und begann frohen Mutes, seine eigenen Geschäfte zu machen.
Ein eigenes Geschäft starten
„Um ein modernes Schlagwort zu benutzen: ich nahm damals eine ‚Existenzgründung‘ vor“, sagt Yang Fu heute mit einem bitteren Lächeln über seine ersten Gehversuche als Geschäftsmann. „Allerdings ist der Markt viel komplizierter als ich dachte.“
Obwohl das Geschäft nicht gut lief, lernte Yang – als er noch im Getreidebüro arbeitete – in seiner Freizeit die Grundlagen des Elektrikerwissens. Mit diesen Fähigkeiten fing er an, als individueller Elektroinstallateur tätig zu sein. Im Handumdrehen waren weitere sechs Jahre vergangen.
In den zweiten sechs Jahren in Beijing gründete Yang Fu seine eigene Familie. Im gleichen Zeitraum trat China der Welthandelsorganisation bei und öffnete seinen Binnenmarkt weiter nach außen. Gleichzeitig konnten viele ausländische Unternehmen, die in der Anfangsphase der Reform und Öffnung noch eine abwartende Haltung gegenüber China einnahmen, schon bald erkennen, dass ihre Konkurrenten, die früher in den chinesischen Markt eingetreten waren, bereits eine schöne Menge Geld verdient hatten. Und so beschlossen auch diese Unternehmen bald, ebenfalls nach China zu kommen und die Gelegenheit beim Schopfe zu packen.
Im August 2005 wurde Beijing-Benz DaimlerChrysler Automotive (BBDC) von der DaimlerChrysler AG, DaimlerChrysler (China) Investment und der Beijing Automotive Industry Holding offiziell in Beijing gegründet. Im August 2007 wurde das Joint-Venture-Unternehmen in Beijing Benz Automobile (BBAC) umbenannt.
Im selben Jahr fing Yang Fu auf Empfehlung eines Freundes an, bei BBAC zu arbeiten. In den frühen Tagen der Gründung suchte BBAC händeringend nach neuen Mitarbeitern, und so wurde Yang dank seines sich selbst angeeigneten Elektrikerfachwissens im Handumdrehen zu einem Facharbeiter in der Automobilbranche.
„Ich bin wirklich in einer guten Zeit geboren. Die Reform und Öffnung hat nicht nur das Problem der Engpässe bei Lebensmitteln und Kleidung, sondern auch das Problem der Arbeitsplätze für viele Menschen in China dauerhaft gelöst“, sagte Yang Fu.
Im Mai dieses Jahres besuchte Yang Fu (rechts) den „Fortgeschrittenenkurs für innovative Talente der Automobilbranche“ im industriellen Trainingszentrum der Tsinghua-Universität.
„Zurückgelassener Vater“
Vom Arbeiter auf der Produktionslinie zum Gruppenleiter der Produktionsgruppe bis hin zum jetzigen Messtechniker ist Yang Fu bei BBAC Schritt für Schritt aufgestiegen. Im Jahr 2013, also wieder rund sechs Jahre später, konnte er in Beijing seine eigene Wohnung kaufen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Yang, der mit 17 seine Heimat verlassen hatte, durch drei Mal „sechs Jahre“ harter Arbeit endlich sein eigenes Zuhause in Beijing etabliert.
In Wirklichkeit könne Beijing nicht sein richtiges Zuhause sein, so Yang Fu, da seine Frau und Kinder nicht hier mit ihm leben könnten.
Der Sohn von Yang Fu kann maximal ihre neunjährige Schulpflicht in Beijing absolvieren, weil seine Ansiedlung nicht in Beijing vollzogen wurde. Wenn er weiter aufs Gymnasium gehen und eine Hochschulaufnahmeprüfung ablegen möchte, muss er jedoch in ihre Heimat, wo er im System der Haushaltsregistrierung [chin. „Hukou“] unter dem Namen ihres Vaters gemeldet ist, zurückkehren. In China gibt es bei der Hochschulaufnahmeprüfung in verschiedenen Provinzen unterschiedliche Prüfungsaufgaben und Schwerpunkte. Im letzten Jahr hat Yang Fu seinen Sohn daher zurück in die alte Heimat geschickt, damit er sich so früh wie möglich an seine Ausbildung in der Provinz Shanxi gewöhnen kann. Seine Frau ging auch zurück nach Shanxi, um sich um ihren Sohn zu kümmern. Und so wurde Yang Fu zu einem der „zurückgelassenen Väter“ in Beijing – ein Phänomen, mit dem außer der Familie Yang noch Millionen anderer „Wanderarbeiter“ und Arbeitsmigranten konfrontiert sind.
Seit der Reform und der Öffnung hält China daran fest, dass die Entwicklung das oberste Prinzip der Politik ist. Die Regierung konzentriert sich auf den Aufbau, strebt eindeutig die Entwicklung an. Bis zum Jahr 2010 war Chinas gesamte Wirtschaftsleistung auf Platz zwei der Welt vorgerückt – die Gesamtstärke des Landes wurde auf eine neue Stufe gehoben.
Im Laufe der Entwicklung sind jedoch auch eine Reihe von Widersprüchen und Problemen aufgetaucht, von denen das größte das Ungleichgewicht in der Entwicklung der städtischen und ländlichen Gebiete ist. Immer mehr Menschen werden von der Beschäftigung, dem Einkommen und den Lebensbedingungen in den Großstädten angezogen. Der Zustrom übersteigt bei weitem die Erwartungen der Städteplaner, was zu Spannungen zwischen allen Arten von Angebot und Nachfrage geführt hat, so dass einige Wanderarbeiter nicht einmal die grundlegendsten öffentlichen Dienstleistungen in Anspruch nehmen können.
Glücklicherweise hat die Regierungspartei Chinas diese Probleme schon erkannt. Der XIX. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) basierte auf dem neuen historischen Orientierungspunkt, dass der Sozialismus chinesischer Prägung in ein neues Zeitalter eingetreten ist, und stellte fest, dass sich der gesellschaftliche Hauptwiderspruch in China in den Widerspruch zwischen den ständig wachsenden Bedürfnissen der Bevölkerung nach einem schönen Leben und der unausgewogenen und unzureichenden Entwicklung gewandelt hat.
Auf Grundlage der Umwandlung des gesellschaftlichen Hauptwiderspruchs hat der XIX. Parteitag der KPCh den reichen Inhalt der Ideen des Sozialismus chinesischer Prägung im neuen Zeitalter festgelegt und viele neue Anforderungen an die Arbeit der Partei und des Staates gestellt. Die grundlegendste und wichtigste Anforderung darunter ist, den Entwicklungsgedanken, das Volk in den Mittelpunkt zu stellen, konsequent durchzusetzen, die Probleme der unausgewogenen und unzureichenden Entwicklung mit konzentrierten Kräften zu lösen, und die allseitige Entwicklung der Menschen und den gemeinsamen Wohlstand des ganzen Volkes unaufhörlich zu fördern.
Auf dem Weg zur Realisierung dieses gemeinsamen Wohlstands hat Yang Fu bereits viele positive Ergebnisse gesehen.
Die „nächsten sechs Jahre“
„Was mir ganz deutlich auffällt, ist, dass es immer mehr asphaltierte Straßen in meiner Heimat gibt, und dass diese immer breiter und immer besser ausgebaut wurden“, sagt Yang Fu. Er zeigt uns ein Foto, das er vor kurzem in seiner Heimat aufgenommen hatte. „Früher gab es um das Dorf herum nur Feldwege. Jetzt gibt es überall Asphaltstraßen. Ende nächsten Jahres soll zudem die Hochgeschwindigkeitsstrecke von der Stadt Datong nach Zhangjiakou in Betrieb genommen werden. Dann kann ich mit einem Hochgeschwindigkeitszug nach Hause fahren.“
Die Landstraße im Kreis Tianzhen in der Provinz Shanxi – im Jahr 2008 (links) und 2018 (rechts). (Foto:Yang Fu)
Yang Fu hat sich für die „nächsten sechs Jahre“ bereits Ziele für sich selbst und seine Familie gesetzt: Er hofft, dass sein Sohn in der Schule fleißig lernt und es sechs Jahre später auf eine Universität in Beijing schafft. „Auf diese Weise können wir wieder dauerhaft als Familie zusammenleben“, sagte er.
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