12-05-2010 Beijing Rundschau
Eine Stadt ohne Autos
 

Matthias Mersch, 50 Jahre alt, Journalist

Geburtsort: Garmisch-Partenkirchen, Bayern

Wohnorte: Garmisch-Partenkirchen, Tübingen, Lugano, Rom, München, Qingdao, Beijing

Ich bin mitten in den Alpen geboren, ein durch Tourismus und übermäßige Besiedlung ökologisch mittlerweile sehr bedrohtes Gebiet. Schlammlawinen und Felsstürze sind eine relativ häufige Erscheinung geworden. Man erwartet, dass in Zukunft weite Gebiete des Alpenraums unbewohnbar sein werden. „Better City, Better Life" ist also nicht nur eine Frage der Luftqualität und der Rettung der Städte vor dem Anstieg des Meeresspiegels, sondern eine Frage, die sich je nach Region durchaus in unterschiedlicher Weise stellt. Ich bin gespannt, ob diese Vielfalt der Probleme und Lösungsansätze, die nur begrenzt übertragbar sind, auf der EXPO in Shanghai reflektiert werden. Ich hoffe, dass man sich dort nicht ganz der Suche nach einer „Generallinie" verschreibt, der Suche nach der großen Formel, die alle Fragen der Urbanistik ein für alle Mal lösen soll. Denn die gibt es meines Erachtens nicht.

In China glaubt man zu sehr und zu wenig an Stadtplanung: zu sehr, weil Projekte zu schnell entschieden und dann ohne Rücksicht auf die Interessen der Einwohner durchgezogen werden. Zu wenig, weil die Planung unkoordiniert geschieht. So hat zum Beispiel das Stadtbauamt keinen Einfluss auf Projekte der Staatsbahn, der Armee oder ganz allgemein der Zentralregierung. Selbst dann nicht, wenn diese Projekte unmittelbar in die Struktur und das Erscheinungsbild einer Stadt eingreifen. Das war in Deutschland übrigens ganz ähnlich, worunter mein Heimatort Garmisch sehr gelitten hat. Ich weiß nicht, ob das heute anders geworden ist.

Deutsche Wirtschaftsbosse und Politiker blicken immer voller Bewunderung auf die Geschwindigkeit, mit der in China Bauprojekte geplant und durchgeführt werden. Das ist verständlich: Unternehmer wollen schnell Geld verdienen, Politiker schnell das Geld der Steuerzahler ausgeben, um sich damit ein Denkmal zu setzen, das den Wähler möglichst noch in der laufenden Wahlperiode beeindrucken soll. In Deutschland und der Schweiz gibt es sehr lange Planungszeiten, weil die Betroffenen gehört werden und es sehr viele Möglichkeiten gibt, Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Verwaltung einzulegen. Dennoch kann man nicht behaupten, dass die Schweiz und Deutschland strukturschwache Gebiete wären. Im Gegenteil: in diesen Ländern sind bereits zu viele Flächen versiegelt. Ich denke, eine Zeit der Planung kann gar nicht lange genug sein. Die Unsinnigkeit vieler Projekte stellt sich erst im Laufe der Diskussion um ihre Realisierbarkeit heraus: oft werden sie schließlich fallengelassen, wodurch Geld eingespart und die Umwelt geschont wird.

Meine Traumstadt hat vor allem eine Eigenschaft: Sie ist eine Stadt ohne Autos! Individualverkehr verträgt sich nicht mit der Verdichtung städtischen Raums. In den fünfziger und sechziger Jahren ist man in Deutschland dem amerikanischen Wahn der so genannten „autogerechten Stadt" verfallen. Was in Los Angeles vielleicht aufgrund der örtlichen Gegebenheiten und der Weite des Umlandes zeitweilig noch einen gewissen Sinn hatte, ist in Europa von vornherein völlig unsinnig gewesen.

Die europäische Stadt hat sich in den allermeisten Fällen um einen sehr dichten mittelalterlichen Stadtkern herum entwickelt, in dem Wohnen und Arbeiten Hand in Hand gingen. Nehmen Sie München und die Frage des Individualverkehrs: wenn man die Personen, die täglich auf der Stammstrecke der S-Bahn zwischen Ostbahnhof und München-Pasing transportiert werden, in Autos setzen wollte, müsste man eine Stadtautobahn mit 74 Fahrstreifen bauen! Das heißt, man müsste die gesamte Altstadt inklusive Rathaus und Dom abreißen, um eine entsprechende Verkehrskapazität zu schaffen.

Obwohl man zeitlichen Abstand zu den Irrwegen Amerikas und Europas und damit einen guten Überblick hat, versucht man auch in China die autogerechte Stadt zu verwirklichen. Ein aussichtsloses Unterfangen. Schade, dass die Chinesen nicht klüger sind, sondern die Fehler des Westens um jeden Preis nachahmen wollen! Aber so ist der Gang der Welt: der Mensch ist nicht von Vernunft geleitet, sondern reagiert nur auf Leidensdruck, also immer dann, wenn die Probleme so groß geworden sind, dass sich die Gier nach Geld und Prestige endlich abschwächt.


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