18-06-2014
Kultur
Die eigene Geschichte wiederentdecken
von Yin Pumin

Die Rekonstruktion verlorengegangener Familienstammbäume wird immer beliebter

 

 

Exquisites Kunsthandwerk: Ein Familienstammbaum von Zhang Dewen. Der bekannte Kunsthandwerker nutzt für die Erstellung der Stammbäume traditionelle Drucktechniken.

 

Kaiserliche Ahnentafel: Qingyudie, der Stammbaum der kaiserlichen Familie der Qing-Dynastie (1644-1912) wird am 2. Mai in der Archivverwaltung von Liaoning gezeigt

   

Fünfzig Jahre, nachdem der alte Stammbaum der Familie Sun in Guiyang (Provinz Guizhou) als „feudaler Müll" den Flammen zum Opfer fiel, erhielten die Nachfahren der Familie Anfang Mai eine neue Ausgabe ihres Stammbaums.

„Die Idee, den Stammbaum wiederherzustellen, entstand 2004", erklärte Sun Weihong, der an der Rekonstruktion einen wesentlichen Anteil hatte. „In den letzten zehn Jahren haben alle Mitglieder der Familie daran mitgearbeitet. Unser gemeinsames Ziel war es, die Familiengeschichte wiederzuentdecken und unsere Familientraditionen weiterzuführen."

Traditionellerweise bewahren chinesische Familien ihren Stammbaum in Form eines Buchs auf, es zeigt die Abfolge der Generationen, führt die Erfolge männlicher Familienagehöriger auf und legt die Familienregeln dar.

Im Verlauf der Geschichte, vor allem während der Kriege und Konflikte zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Kulturrevolution (1966-1976) gingen viele dieser Bücher verloren oder wurden absichtlich zerstört. Familie Sun aus Guiyang war noch in den 1960er Jahren im Besitz ihres Familienstammbaums, bis die Kulturrevolution begann. „Ich erinnere mich daran, dass es viele alte Kunstwerke in meiner Familie gab, darunter Kalligraphien und Malereien. Aber mit dem Aufstieg der „anti-feudalistischen Bewegung" in den 1960er Jahren wurden diese Schätze verbrannt", berichtet Sun Weihong.

Durch zahlreiche Nachforschungen und Gespräche konnte Sun Qingyan, ein Beamter der Qing-Dynastie (1644-1912) aus Chenggong in der Provinz Yunnan als Urahn der Familie ausgemacht werden.

„Das zeigt, dass den Leuten klar ist, wie wichtig es ist, seine Vorfahren zu kennen", erklärt Chang Sixin, ehemaliger Vizevorsitzender der Gesellschaft für chinesische Volksliteratur und Volkskunst. „Unmoralische Menschen werden allerdings nicht in den Stammbaum aufgenommen", so Chang, „sondern nur Menschen, die sich durch moralische Werte und korrektes Verhalten auszeichnen."

Stammbäume könnten eine Art kultureller Identität schaffen, meint Xiao Fang, Professor für Ethnographie an der Beijing Normal University. „Sie ermöglichen ein Zugehörigkeitsgefühl in einer Zeit, in der sich große Familien in viele kleine Familien aufspalten und das Konzept der Familie aus der modernen Gesellschaft verschwindet", so Xiao.

 

Auf der Suche nach den Wurzeln

Um diese fast verlorene Tradition wiederzubeleben, haben Familien im ganzen Land damit begonnen, ihre Stammbäume wiederherzustellen. Daran sind nicht nur ältere Familienmitglieder, sondern auch viele jüngere beteiligt.

„Traditionellerweise gibt die ältere Generation Familiengeschichten an die jüngere Generation weiter, so dass sie Teil des familiären Gedächtnisses werden", erklärt Zheng Yugang, Vizevorsitzender des Verbandes für Sozialpsychologie in Shanxi.

Die Urbanisierung hat viele Familien jedoch auseinandergerissen. Die Alten bleiben auf dem Land, während die Jungen in den Städten leben. „Das zerstört die Verbindung zwischen den Generationen", sagt Zheng.

Han Bing gehört zu dieser jüngeren Generation, die versucht, ihre Vorfahren zu entdecken.

Vor 15 Jahren kam er aus seiner Heimatstadt in Henan nach Beijing. Nach vier Jahren Studium an der Tsinghua Universität und fünf Jahren Arbeit in einem internationalen Unternehmen kaufte er sich 2008 eine eigene Wohnung und ließ sich dauerhaft in Beijing nieder.

„Nach all den Jahren in der Stadt fühle ich mich trotzdem noch nicht ganz zu Hause. Meine Eltern und Schwestern leben noch in meiner Herkunftsstadt. Mir kommt es so vor, als wenn ich mich jeden Tag ein wenig mehr von meiner Familie entferne", sagt er. Er erinnere sich daran, wie ihn eines Tages sein fünfjähriger Sohn nach dem Namen seines Ur-Ur-Großvaters gefragt habe, erzählt er. „Ich hatte keine Ahnung. Zu meiner Überraschung wusste auch mein Vater den Namen nicht." Han beschloss daraufhin, selber einen Familienstammbaum zu erstellen. Nach sechs Monaten intensiver Nachforschungen, Aktenstudien und Verwandtenbesuchen hatte er die Basis des Familienstammbaums mit fünf Generationen und mehr als 100 Familienmitgliedern fertiggestellt

Einige der jüngeren Leute stellen ihren Stammbaum auch ins Internet, um Leute mit dem gleichen Nachnamen zur Mithilfe zu bewegen. „Das Internet kann Leute mit dem gleichen Nachnamen zusammenbringen und bei der Zusammenstellung von Familienstammbäumen weiterhelfen!, sagt Shi Aiwu, Manager für Business Development bei Wojia.com.

Wojia.com wurde 2008 gegründet und ist wohl die umfangreichste Informationsquelle im Internet für chinesische Familiengeschichte. Die Website bietet Abonnenten eine umfangreiche Sammlung historischer Aufzeichnungen in digitaler Form an, die auf der Zusammenarbeit zwischen den Büchereien von Shanghai und Hunan und der Akademie der Sozialwissenschaften in Shanxi basiert.

Die Website dient als Netzwerk, auf dem Menschen ihre Familienstammbäume erstellen, eigene Inhalte wie Fotos und Geschichten kreieren und die Genealogie weiterführen können. „Wir wollen nicht nur die Neugier der Menschen über das Leben ihrer Vorfahren befriedigen, sondern ermutigen sie auch, ihre eigenen Familiengeschichten zu bewahren und über das Internet zu teilen. Die Aufzeichnungen von heute werden für ihre Nachfahren für Jahrzehnte oder Jahrhunderte zu einer Quelle der Inspiration werden", sagt Shi.

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