Die Traditionelle Tibetische Medizin braucht mehr Forschung und Schutz.
Ressourcenreich: Ein Arzt an einem Krankenhaus für tibetische Medizin in der Präfektur Gannan in der Provinz Gansu stellt ein Medikament für die Krankenhausapotheke her. (Xinhua)
Jeden Sommer führen erfahrene Ärzte des Tso-Ngon-Krankenhauses für tibetische Medizin in Xining, der Hauptstadt der Provinz Qinghai im Nordwesten Chinas, medizinische Untersuchungen in und außerhalb der Provinz durch. Sie richten dann vorübergehend medizinische Anlaufstellen an Orten ein, die von Tibeternche Nationalität normalerweise für religiöse Zeremonien und Versammlungen genutzt werden. Der Andrang ist groß, die örtliche Bevölkerung wartet in langen Schlangen auf Diagnose und Behandlung. In entlegenen und armen Gebieten sind die Behandlungen kostenfrei.
Als eine der führenden Kliniken für tibetische Medizin versucht das Tso-Ngon-Hospital immer, alle Möglichkeiten der zur Verfügung stehenden Traditionellen Tibetischen Medizin zu nutzen. Bei 80 Prozent der klinischen Behandlungen werden tibetische Kräuter und Medikamente eingesetzt, bei äußeren Anwendungen ist dies sogar ausnahmslos der Fall.
Ein wichtiger Grund für die Beliebtheit des Krankenhauses sind die Effektivität und geringen Kosten der Medikamente. Sie sind deutlich billiger als die in gewöhnlichen Apotheken erhältlichen Arzneien.
„Die Klinik ist jetzt in der Lage, medizinische Substanzen selbst zu verarbeiten. Die Kräuter werden meist vor Ort produziert und kosten nicht viel", erklärt Krankenhausleiter Otsang Tsokchen.
Ein Traditionsjuwel
Tibetische Medizin existiert bereits seit mehr als 2000 Jahren und ist neben der Traditionellen Chinesischen Medizin und der indischen Ayurveda-Medizin eins der drei wichtigsten Systeme traditioneller Medizin.
Tibetische Medizin ist reich an Traditionen. Das Somaratsa lässt sich bis ins frühe achte Jahrhundert zurückdatieren und ist das älteste der bislang entdeckten Meisterwerke tibetischer Medizin. Es listet 440 Medikamente auf, 300 davon gibt es nur auf der Qinghai-Tibet-Hochebene. Die meisten davon werden auch heute noch benutzt.
Das bekannteste Werk zur tibetischen Medizin sind die „Vier Medizinische Klassiker", verfasst von Yuthog Yonten Gonpo (708-835), dem Begründer des theoretischen Systems der tibetischen Medizin. Das Buch beschreibt 1002 verschiedene Arzneien und 400 Rezepte und zeigt, dass das System der tibetischen Medizin um diese Zeit herum Gestalt annahm.
In der tibetischen Medizin glaubt man, dass die Beziehung zwischen Krankheit und Symptomen der Beziehung zwischen Feuer und Rauch entspricht. Dieses Verständnis impliziert, dass man beim Umgang mit Krankheiten den Patienten eher als Ganzes betrachtet und versucht, die Ursache der Krankheit zu beseitigen, statt nur die Symptome zu behandeln. Als ein sehr altes medizinisches System besitzt die tibetische Medizin viele Besonderheiten. So spielt beispielsweise die Urin-Diagnose im Vergleich zu anderen Behandlungsmethoden eine sehr wichtige Rolle.
Die tibetische Medizin unterscheidet zwischen oraler Medikation und äußeren Anwendungen.
Das Prinzip der oralen Medikation lautet „Die Kälte erhitzen und die Hitze kühlen", um im Körper ein Gleichgewicht herzustellen. Äußere Anwendungen umfassen beispielsweise den Aderlass und Heilkräuterdämpfe.
Ein tibetisches Medikament ist normalerweise eine Mischung aus 50 oder mehr medizinischen Kräutern. Mehr als 1400 Kräutersorten werden regelmäßig als Bestandteile genutzt, einige davon kann man nur auf der Qinghai-Tibet-Hochebene finden.
„Einige Krankheiten, bei der moderne westliche oder Traditionelle Chinesische Medizin scheitern, können erfolgreich von der tibetischen Medizin behandelt werden", sagt Otsang Tsokchen.
Die Einzigartigkeit der tibetischen Medizin zeigt sich am besten in ihrer Wirksamkeit bei der Bekämpfung von Erkrankungen des Nerven- und Immunsystems. So werden rheumatische Erkrankungen als Probleme des Immunsystems diagnostiziert. In der westlichen Medizin sind Schmerzmittel und entzündungshemmende Medikamente die einzige Behandlungsmethode. Die Traditionelle Chinesische Medizin hat ebenso Probleme bei der Behandlung von Rheuma. „Tibetische Medizin ist bei der Behandlung dieser Krankheit aber sehr erfolgreich", sagt Otsang Tsokchen.
Nach Angaben von Wan Matai, Leiter der Abteilung für Herz- und Kreislauferkrankungen des Tso-Ngon-Krankenhauses, wurde 2011 ein Patient aus der Provinz Sichuan zur Behandlung aufgenommen. Bei dem um die 50-jährigen hatte man das Guillain-Barré-Syndrom diagnostiziert, eine Krankheit, bei der das Immunsystem das periphere Nervensystem angreift. Sie führt zu Schwäche oder Kribbeln in den Beinen - Symptome, die sich bis zum Rumpf fortsetzen. Bevor er in das Krankenhaus kam, hatte der Mann mehrere Ärzte und zahlreiche angesehene Krankenhäuser in Sichuan, Beijing und Shanghai aufgesucht. Am Ende scheiterte auch die westliche Medizin.
„Bei seiner Ankunft konnte er seine Gliedmaßen nicht bewegen. Essen und Trinken waren sehr schwierig für ihn. Nach zweiwöchiger Behandlung in unserer Abteilung, während der er traditionelle tibetische Medikamente wie Perlentabletten kombiniert mit Akupunktur, Fettsalben und Blutabnahmen erhielt, konnte er sich bewegen. Zwei Monate später verließ er das Krankenhaus auf eigenen Beinen", berichtet Wan Matai.
In der tibetischen Medizin gilt das Guillain-Barré-Syndrom als „Weiße-Puls-Krankheit", ein Begriff, der sich auf Probleme mit dem Nervensystem, einschließlich Klein- und Großhirn sowie Rückenmark bezieht, während Erkrankungen des Kreislaufsystems zu den „Schwarzer-Puls-Krankheiten" gezählt werden. Theorie und Behandlung der Krankheit unterscheiden sich also deutlich von westlicher und Traditioneller Chinesischer Medizin.
Bequeme Behandlung: Diese traditionelle Behandlung soll die Blutversorgung für das Gehirn verbessern. (Pan Xaioqiao)
Verbindungen zum Buddhismus
Kunchok Gyaltsen ist Professor und Doktorvater an der Hochschule für tibetische Medizin der Universität Qinghai. Anders als die meisten anderen Lehrkräfte ist er auch ein Lama und zurzeit Ehrenpräsident des Kumbum-Krankenhauses für tibetische Medizin, das in den 1980er Jahren vom Tar-Kloster in Xining eingerichtet wurde. Das Kloster ist eine der sechs wichtigsten Vertretungen der Gelug-Glaubensrichtung des Tibetischen Buddhismus. Es besitzt sein eigenes medizinisches Institut, das Mönche und Ärzte ausbildet. Allein das zeigt schon die Verbindungen zwischen tibetischem Buddhismus und tibetischer Medizin auf, lässt das medizinische System zunächst aber möglicherweise mysteriös erscheinen.
Die der tibetischen Medizin zugrunde liegende Philosophie stammt hauptsächlich aus dem Buddhismus, sie betont die Harmonie zwischen Mensch und Natur, und dass der Mensch integraler Bestandteil der Natur sei. Wenn sie ein gewisses Niveau buddhistischen Wissens erworben haben, können Mönche auch medizinischen Unterricht nehmen. Viele religiöse Würdenträger sind gleichzeitig ausgezeichnete Ärzte.
Vor allem bei der psychiatrischen Behandlung ist der Ansatz der tibetischen Medizin einzigartig. Der Geisteszustand eines Patienten wird anhand der medizinischen Theorie analysiert, die ganz eigene Erklärungen für alle möglichen mentalen und psychologischen Probleme bietet. Durch die Einführung buddhistischer Konzepte wie Meditation und Visualisierung hilft sie den Patienten, durch eigene Aktivitäten von psychischen Krankheiten zu genesen.
Kunchok Gyaltsen besaß bereits einen Doktortitel von der University of California in Los Angeles. Während seiner 14 Jahre langen akademischen Auslandserfahrungen bewahrte er sich aber seine Identität als Lama.
„Wenn sie über Wissenschaft sprechen, meinen viele westliche Professoren, dass Religion im Kontrast dazu steht, aber ich denke das nicht. Meine Religion, der Tibetische Buddhismus, unterscheidet sich deutlich von ihrem Religionsverständnis. Der Tibetische Buddhismus ist extrem logisch aufgebaut, beim Studium der tibetischen Medizin sieht man, wie perfekt er Körper und Seele verbindet. Diese Verbindung ist nicht nur Einbildung, wie manche meinen könnten, sondern das Ergebnis logischer und vernünftiger Schlussfolgerungen", sagt er.
Seiner Ansicht nach soll der Buddhismus die geistige Verfassung und die Seele der Menschen verbessern, während die Medizin hauptsächlich auf die physische Gesundheit abzielt. Buddhismus und Medizin halten Seele und Körper für untrennbar miteinander verbunden. Der Tibetische Buddhismus habe seine eigene Philosophie, die tief in die Gefühle und geistige Verfassung der Menschen hineinreiche. Dieser Philosophie zufolge können Gefühle und Geistesverfassung genauso seziert werden wie ein menschlicher Körper.
Die westliche Psychologie berührt nur die Gefühle, der Tibetische Buddhismus legt nahe, dass Gefühle nicht gleichzusetzen sind mit der Seele einer Person oder der Geistesverfassung selbst, argumentiert Kunchok Gyaltsen.
Probleme und Aussichten
Tibetische Medizin ist in Qinghai recht beliebt, rund 180 Medikamente werden von der Basis-Krankenversicherung abgedeckt. Es ist jedoch schwierig, dieses System auf das ganze Land auszudehnen. Zurzeit gibt es nur eine sehr begrenzte Zahl tibetischer Medikamente in Chinas Arzneibuch, das dem höchsten pharmazeutischen Standard des Landes entspricht. Infolgedessen sind viele wirksame tibetische Medikamente in einem Großteil Chinas nicht erhältlich.
Es gibt ein weiteres großes Problem, nicht nur für die tibetische, sondern auch für die Traditionelle Chinesische Medizin. Jahrtausende lang war die tibetische Medizin ein integrales Fach. Studenten lernten alles von einem einzigen Lehrer, der profunde Kenntnisse von jedem Bestandteil der tibetischen Medizin besaß. Das steht in scharfem Kontrast zur westlichen Medizin, wo ein Student der Nasenheilkunde möglicherweise nichts über Herz-Kreislauf-Erkrankungen weiß. Heutzutage geht der Trend in medizinischen Hochschulen aber dahin, integrale und umfassende traditionelle medizinische Systeme in verschiedene Teile aufzugliedern wie in der westlichen Medizin.
„Tibetische Medizin ist ihrem Wesen nach sowohl ein kulturelles als auch wissenschaftliches Phänomen. Wenn diese Einbindung zerstört und nur der wissenschaftliche Inhalt erhalten wird, während man den kulturellen Aspekt weglässt, dann ist sie nicht mehr das, was sie jetzt ist, denn sie wird ihre Seele verlieren. Und sie wird an Wirksamkeit einbüßen", sagt Kunchok Gyaltsen.
Die örtliche Bevölkerung, die die Bedeutung der tibetischen Medizin versteht, geht im Krankheitsfall lieber ins Tso-Ngon-Hospital. In jüngster Vergangenheit behandelt das Krankenhaus zunehmend auch Patienten aus Chinas Nachbarländern wie Russland, Japan und Südkorea.
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