05-05-2010
Die vier begehrtesten Tische Shanghais

 

Vor dreißig Jahren katapultierte Deng Xiaoping China mit den Worten „Reich zu werden ist herrlich" ins kapitalistische Zeitalter. Qu Minglan jedoch hat davon bisher nichts gespürt.

Frau Qu, allgemein bekannt unter dem Spitznamen Lan Lan, ist Betreiberin eines der bekanntesten Restaurants in Shanghai, und das obwohl an ihren vier Tischen nur 18 Personen Platz haben. Doch hat ihre kleine Küche den Ruf, dass man dort die beste Hausmannskost in ganz Shanghai bekommt. Und so sind die begehrtesten vier Tische Shanghais meistens besetzt. Den ganzen Tag kommen hungrige Menschen in der Hoffnung vorbei, auch ohne Reservierung einen Tisch zu ergattern. Meistens haben sie kein Glück.

 Sechs Personen – Elf Gerichte

 Unser Besuch in dem kleinen Restaurant beginnt damit, dass Qu Minglan sich zu uns an den Tisch setzt. Frau Qu, deren weiches, rundes Gesicht mit den kurzen Haaren sie wesentlich jünger aussehen lässt als 50, kommt mit einem Notizblock in der Hand aus der Küche zu uns an den Tisch. Der Block stellte sich jedoch schnell als Requisite heraus, denn eine Speisekarte gibt es in Frau Qus Laden nicht. Das Tagesgericht besteht aus dem, was morgens auf dem Markt appetitlich aussieht. Die einzige Frage, die Frau Qu stellt: „Wie hungrig bist du?"

Wehe dem, der darauf wie wir "hungrig" antwortet! Für insgesamt sechs Personen kamen in kürzester Zeit elf Gerichte auf den Tisch. Alle elf Teller waren hoch aufgehäuft. Es gab reichlich Krabben mit Klebereisrollen, dazu kurz in ihrer Schale angebratene Schrimps. Außerdem als Appetitanreger ein Huhn – kalt und gesalzen – das sein Leben lang garantiert keinen Käfig von Innen gesehen hatte. Und der Fisch hätte nicht frischer schmecken können. Serviert wurde er in einer dicken, schwarzen Soße, die den zarten Fischgeschmack fast erschlug, aber irgendwie auch prickelte. Allgemein bestaunt wurde das aus allerlei Bohnensorten bestehende Püree, das zusammen mit eingelegtem Gemüse aufgetragen wurde. Die Portion war so enorm, dass wir auch zu sechst nur einen Bruchteil davon essen konnten.

 

In ganz China haben sich Restaurants mit sehr viel bescheidenerem Ruf als das „Chun" von kleinen Imbissläden in große glänzende Paläste verwandelt. Ein Beispiel ist das Zhang Sen Ji, ein kleines Restaurant, dass vor Jahren in Hangzhou eröffnete und heute sowohl dort wie auch in Shanghai und Beijing mehrere Ableger hat. Eine Frau wie Qu Minglan ist in einem Land, dass dem ökonomischen Erfolg so sehr wie China huldigt, eine Ausnahmeerscheinung. Für sie ist ihre Freizeit und die Authentizität ihres Essen sehr viel wichtiger als Geld. „Schauen Sie sich meine Mitbewerber in den großen Restaurants an," spöttelt sie, „sie nutzen jede Minute um Geld zu machen. Aber warum sollte man sich so das Leben vermiesen?" Um ihren Standpunkt zu verdeutlichen, zitiert sie ein chinesisches Sprichwort, das sich von dem Eingangs erwähnten Zitat Deng Xiaopings stark unterscheidet: „Wenn du rasch zufrieden bist, dann wirst du für lange Zeit glücklich sein."

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