Zum 50. Jahrestag der diplomatischen Beziehungen zwischen China und Frankreich hat die Beijing Review ein exklusives Interview mit Jean-Pierre Raffarin, dem ehemaligen französischen Premierminister und aktuellen Vizepräsidenten des französischen Senats geführt. Er ist ein langjähriger Freund Chinas, der über viele Jahre hinweg zu einem wichtigen Verbindungsglied zwischen beiden Ländern geworden ist. Es folgen Ausschnitte aus dem Gespräch.
Interview mit Jean-Pierre Raffarin
Beijing Review: Ihre erste Chinareise machten sie 1976 als Teil der Delegation von Präsident Valery Giscard d'Estaing. Was war damals ihre Aufgabe? Was war Ihr erster Eindruck von China?
Jean-Pierre Raffarin: 1971 war ich bereits in Hongkong und Macao gewesen. Wir betrachteten Festland-China aus der Entfernung. Es war faszinierend und mysteriös. Mir war damals schon der Einfluss des großartigen chinesischen Volks auf die Region klar. 1976 reiste ich von Harbin nach Guangzhou quer durch China. Es war eine schwierige Zeit, aber wir mussten einfach kommen, um unseren chinesischen Freunden zu sagen, dass Frankreich ihre alte und faszinierende Kultur liebte, trotz der Prüfungen, die China in dieser Zeit durchmachte. Ich fühlte mich im Kontakt mit Chinesen sofort wohl. Ungeachtet all dessen, was zwischen uns stand, empfand ich ein Gefühl der Nähe, das niemals verschwand.
2003 besuchten Sie China als Premierminister mitten in der SARS-Epidemie und trugen dabei keine Schutzmaske. In diesem Moment gewannen Sie den Ruf eines „Freundes der Chinesen". Können Sie uns die Gründe für dieses Verhalten erklären?
Zu dieser Zeit verursachte SARS eine weltweite Panik. In Europa und den USA herrschte die nackte Angst. Die chinesische Regierung nahm die Angelegenheit in die Hand, und ich nahm an, dass würde helfen. Während der Krise waren Angst und Zweifel erschwerende Faktoren. Andere Staatsoberhäupter sagten ihre Reisen nach Beijing ab, aber mit Präsident Jacques Chirac entschieden wir, Vertrauen in die Maßnahmen der chinesischen Behörden zu demonstrieren und ich berichtete ihnen das. Der damalige Staatspräsident Hu Jintao und Premierminister Wen Jiabo schätzten diese Geste sehr. Ich erhielt tausende Sympathiebekundungen von Chinesen und auch von der französischen Community in China, die meine Entscheidung respektierten.
Während Ihrer Amtszeit als Premierminister entwickelten sich die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen China und Frankreich in einem günstigen politischen Umfeld besonders schnell. Welches Ereignis beeindruckte Sie besonders?
Ich erinnere mich vor allem an das Jahr des Kulturaustauschs 2005, das sehr stark zur Freundschaft zwischen unseren beiden Völkern beitrug. Ich werde niemals den Eiffelturm in Rot und den Shanghaier Fernsehturm in Blau-Weiß-Rot vergessen. Die Gründung der Airbus-Fabrik in Tianjin war ebenso ein großartiger Augenblick für mich. Unvergesslich war auch der außergewöhnliche Besuch von Staatspräsident Hu im Hôtel Matignon, der Residenz des Premierministers. Ich denke auch oft an den Mut, den die Menschen in Sichuan nach dem Erdbeben zeigten.
Sie waren die am besten geeignete Person, um Informationen zwischen der französischen und chinesischen Seite zu vermitteln, als die bilateralen Beziehungen sich zwischen 2008 und 2009 verschlechterten. Wie sehen Sie Ihre Rolle in dieser Zeit?
Die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass es das beste ist, ehrlich und direkt mit den chinesischen Behörden umzugehen. Dialog ist oft direkt, also müssen wir verstehen, dass die Chinesen nicht die Geiseln unserer heimischen Diskussionen sein wollen. In der modernen Welt ist es unmöglich, in China ein Freund zu sein und nach der Rückkehr nach Europa ein Feind. Daher schätzen es die Chinesen nicht, wenn der Westen China westliche Lektionen durch westliche Medien erteilt. Ich habe direkte Diskussionen vorgezogen, ohne Mittelsmann, eine Vertrauensentscheidung getroffen. Wir haben mit Premierminister Li Keqiang gut am Aufbau des gegenseitigen Respekts zusammengearbeitet.
Chirac liebte chinesische Bronzearbeiten, Sie interessieren sich für chinesische Literatur und Poesie. Welche Autoren der Vergangenheit und Gegenwart bewundern Sie am meisten?
Ich mag die Gedichte von Du Fu, Bai Juyi, Li Bai and Meng Haoran sehr. Mir gefällt auch moderne Poesie, z.B. die Gedichte meines Freunds Li Zhaoxing. Ich liebe die Porträts von Fan Zeng, die Berglandschaften von Fan Yifu und die Bilder von Li Xin... In China gibt es unendlich viel beeindruckende Dinge. Seine Museen sind wunderbar.
Frankreich war das erste westliche Land, in dem Sinologie eine vollwertige Universitätsdisziplin wurde. Worin sehen Sie die Stärken und Vorzüge der Sinologie in Frankreich verglichen mit anderen Ländern? Welche Rolle spielen französische Sinologen im Austausch zwischen beiden Ländern und bei Entscheidungsprozessen auf Regierungsebene?
Intellektuelle wie François Jullien haben aufgezeigt, dass die alten und profunden chinesischen Denkmodelle der Welt des 21. Jahrhunderts dabei helfen können, die Realität besser zu verstehen. Der „komplexe Gedanke", ein Konzept des Denkers Edgar Morrin, ist der chinesischen Kultur nicht fremd. Die paradoxe Denkweise Chinas hilft uns bei unserer westlichen Obsession mit dem Absoluten. Harmonie ist ein wachsender Wunsch in vielen Gesellschaften.
China lehrt uns, das Wort „Wahrheit" im Plural zu schreiben, während wir daran gewöhnt sind, es im Singular zu benutzen.
Frankreich war die erste westliche Staatsmacht, die diplomatische Beziehungen mit China einging. Aber es gibt nicht so viel Austausch in Wirtschaft und Handel, wie potenziell möglich wäre. Wie können wir den komplementären Charakter unserer beiden Länder verstärken und wie sehen die Zukunftsaussichten aus?
Eine gute Methode ist es, das Gleichgewicht im Austausch wiederherzustellen. Wir sollten mehr chinesische Investitionen nach Frankreich holen. Als Präsident des Jahresforums des Frankreich-China-Komitees bin ich in dieser Hinsicht sehr aktiv. Es gibt gute Aussichten auf beidseitigen Nutzen in Bereichen wie Landwirtschaft, Energie, Gesundheit und nachhaltigen Städtebau. Wir sollten uns um eine größere Rolle von kleinen und Kleinstunternehmen in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit bemühen. Dazu werden wir im Oktober 2014 einen französisch-chinesischen Gipfel in Chengdu veranstalten. Im Rahmen der Western Fair werden 1000 Unternehmen aus beiden Ländern teilnehmen. Das wird der wirtschaftlich stärkste Moment unserer Feier des 50. Jahrestags der diplomatischen Beziehungen.
In einer Zeit, in der beide Länder das 50-jährige Bestehen ihrer diplomatischen Beziehungen feiern, wie sieht Ihr Gesamteindruck von den chinesisch-französischen Beziehungen aus?
Die Beziehungen zwischen beiden Ländern sind ausgezeichnet. Die jüngsten offiziellen Besuche waren erfolgreich und unsere strategische Partnerschaft ist stark. Wir sollten unseren wirtschaftlichen Austausch auf dasselbe Niveau heben wie unsere politische Beziehung. Das ist eine Priorität für unsere gemeinsame Zukunft. Die 400 Veranstaltungen, die in diesem Jahr stattfinden, werden dazu beitragen.
Es wird berichtet, dass Frankreich eine Vereinbarung zum Devisenswap eingehen will. Damit würde Paris ein Zentrum für Renminbi-Transaktionen und könnte in Wettbewerb mit London treten. Wann wird diese Vereinbarung umgesetzt? Was halten Sie davon?
Ich denke, es ist eine ausgezeichnete Initiative. Wir haben daran sehr ernsthaft gearbeitet. Die Bank of China, die bereits eine Filiale in Paris besitzt, hat einige interessante Vorschläge gemacht. Ich hoffe, das wird Teil der guten Nachrichten nach unserem 50. Jahrestag zählen.
Wie verstehen Sie den Begriff „chinesischer Traum", wie er von der neuen Führungsspitze propagiert wird?
Er zeigt den Ehrgeiz der neuen Regierung. Für uns ist er die Weiterführung der „Reform und Öffnung" und gleichzeitig berücksichtigt er das Aufkeimen einer „bürgerlichen Gesellschaft" in China. Ich sehe darin die Idee des „inklusiven Wachstums", die wir auf dem Boao-Forum in Anwesenheit von Staatspräsident Xi Jinping diskutiert haben.
Wie wurde dieses Konzept in Frankreich präsentiert?
Träume sind für romantische Länder immer eine starke Idee. Wir verstehen vollkommen, dass die Einheit ein starker Wert in der chinesischen Politik ist, daher ist es notwendig eine Vision zu fördern, ein Konzept, das die Leute vereint. Der chinesische Traum ist in Frankreich gut aufgenommen worden, da es ein legitimes, nicht aggressives Bestreben ist. Es gibt eine gewisse Kontinuität zwischen dem chinesischen Traum und der Idee des „friedlichen Aufstiegs", die den Chinesen viel bedeutet.
Können wir den „chinesischen Traum" mit den „30 ruhmreichen Jahren" in Frankreich vergleichen?
Es ist schwierig, etwas aus der Zukunft mit etwas Vergangenem zu vergleichen. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten: das Wachstum, die Definition eines Sozialmodells und die Rationalisierung staatlichen Handelns oder die Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft.
2009 haben Sie einen chinesischen Blog auf ifeng.com gestartet. Sie nutzen auch Weibo, um direkt mit chinesischen Internetusern zu kommunizieren. Was hat Sie dazu veranlasst, einen Account anzulegen? Gibt es interessante Anekdoten, die Sie uns erzählen können?
Ich beobachte die chinesische Gesellschaft genau. Sie wird in Zukunft einen größeren Einfluss auf die Welt haben. Ich versuche jungen Leuten in Frankreich zu erklären, dass sie die Zukunft mit Asien teilen werden, genauso wie es im Leben meiner Generation ein Stück Amerika gab. Das Internet verschafft einen guten Blick auf die Realität der chinesischen Gesellschaft. Ich schätze besonders die Sensibilität und den Humor chinesischer Internetnutzer.
Wenn Sie kein Politiker geworden wären, welchen Beruf hätten Sie gerne ausgeübt?
Ich wäre wahrscheinlich Geschäftsmann geworden. Ich habe an einer Business School studiert. Ich hätte mit Sicherheit ein Büro in China eröffnet und wäre häufig zwischen „meinen" beiden Ländern hin- und hergereist. Vielleicht hätte ich Tee gekauft und Wein verkauft...
Können Sie ihre Karriere und ihre Erfahrungen mit China in einigen Schlüsselworten zusammenfassen?
Ein Drittel meines Berufslebens habe ich als Geschäftsmann verbracht, ein Drittel mit regionalen und nationalen Verantwortlichkeiten (als Ministerpräsident und Premierminister), das letzte Drittel habe ich vorwiegend internationalen Angelegenheiten gewidmet (als Vizepräsident des Senats bin ich für die internationale Delegation, das Boao-Forum und das Frankreich-China-Komitee verantwortlich).
Im letzten Jahr habe ich China sechs Mal besucht. Ich kenne mich jetzt in vielen Regionen gut aus. Mit meiner Frau, die auch Chinesisch lernt, habe ich eine Yangtse-Kreuzfahrt gemacht. Ich kann meine Besuche nicht mehr zählen, ich bin eigentlich immer dabei, schon die nächste Reise vorzubereiten.
Können Sie etwas zu Ehren der Partnerstädte in China und Frankreich sagen?
Nachdem ich zum Präsidenten der Region Poitou-Charentes (Kreis Cognac) gewählt worden war, habe ich Beziehungen mit Nanning in Guangxi aufgebaut, was sehr hilfreich war. Es gibt einige Beziehungen zwischen französischen und chinesischen Städten, die zurzeit sehr gut funktionieren. Der jährlich stattfindende Runde Tisch chinesischer und französischer Bürgermeister wird in diesem Frühjahr in Lille stattfinden. Dezentralisierte Zusammenarbeit ist eine moderne Form der Partnerschaft.
Noch einige letzte Worte für unsere Leser?
Franzosen und Chinesen haben eine Menge gemeinsam: „Wir mögen Leute, die uns mögen." Es gibt eine Verwandtschaft zwischen Konfuzianismus und französischem Humanismus. |