06-11-2013
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Reformen am Horizont
von Josef Gregory Mahoney

Die bevorstehende dritte Plenarsitzung des 18. Zentralkomitees der KP Chinas könnte große Veränderungen bringen.

 

Im November wird die dritte Plenarsitzung des 18. Zentralkomiteesder KP Chinas stattfinden. Viele Beobachter rechnen mit einem möglicherweise historischen Treffen, das wichtige Reformen in eine neue Richtung lenken könnte, da Chinas politische Führungsspitze neue Herausforderungen bewältigen muss. Noch ist ungewiss, welche Veränderungen, wenn überhaupt, der November mit sich bringen wird. In diesem Artikel geht es vielmehr darum zu zeigen, wieso die Sitzung wichtig ist, und darum, einige mögliche Reformthemen unter die Lupe zu nehmen, die dort diskutiert werden könnten.

Lassen Sie uns das Ganze zunächst einmal historisch beleuchten. In den vergangenen Jahren haben Parteitage immer mit einem Treffen begonnen, das die neue Parteispitze bestätigt -- die so genannte erste Plenarsitzung. Die letzte fand im November 2012 statt. Normalerweise folgt einige Monate später dann eine zweite Sitzung, in der sich die Partei auf den bevorstehenden Nationalen Volkskongress vorbereitet und die Parteispitze formell in ihre Positionen im Regierungsapparat wählt. Die letzte dieser Sitzungen fand im Februar 2013 statt, darauf folgte im März der Nationale Volkskongress. Im Anschluss daran findet meistens noch im selben Jahr eine dritte Sitzung statt. Sie wird normalerweise von den neuen Führungsteams dazu genutzt, Diskussionen anzustoßen, die den Boden für wichtige Reformen bereiten können.

Die dritte Plenarsitzung des 11. Zentralkomitees der KP Chinas im Jahr 1978 (Xinhua)

So lässt sich beispielsweise Deng Xiaopings „Reform- und Öffnungspolitik" auf die dritte Plenarsitzung des 11. Zentralkomitees der KP Chinas im Jahr 1978 zurückführen, die Entwicklung einer „sozialistischen Marktwirtschaft" auf die dritte Plenarsitzung des 15. Zentralkomitees1993. Natürlich entstehen in diesen Sitzungen keine vollständig ausgearbeiteten Reformen, aber sie helfen bei der Definition von Parteipositionen und der Parteiausrichtung der Zukunft.

Wie die meisten Länder steht China aktuell vor vielen Herausforderungen. Wachstum und Entwicklung müssen aufrechterhalten, die Korruption in Schach gehalten und die soziale und ökologische Gerechtigkeit verbessert werden. Die politische Führungsriege hat bereits angedeutet, dass die Novembersitzung sich vor allem mit wirtschaftlichen und nicht politischen Reformen befassen wird. In der Tat sind wirtschaftliche Reformen aber immer auch politischer Natur. Das ist einer der Gründe, warum wichtige ökonomische Reformen in jüngerer Vergangenheit vernachlässigt wurden, da es der Partei nicht immer gelang, Konflikte um widerstreitende Zukunftsvisionen beizulegen. Die Folge war ein politischer Stillstand, noch verstärkt durch die weltweite Finanzkrise. Die jüngsten politischen Entwicklungen legen aber eine neue Offenheit für Reformen nahe. Xi Jinpings Konsolidierung der drei politischen Spitzenpositionen erfolgte früher als erwartet und zeigt, dass die Partei einen echten Konsensführer gefunden hat. Daher wird sie sich wahrscheinlich hinter Xi stellen, wenn neue Reformen diskutiert und am Ende ausgearbeitet und umgesetzt werden. 

Während der Sitzung im November wird Xi einen Arbeitsbericht aus dem Ständigen Ausschuss präsentieren. Viele erwarten, dass in diesem Bericht eine neue Zukunftsvision diskutiert wird und dass viele relevante Themen angesprochen werden, darunter die Reform von Chinas Bankensystem und  Finanzindustrie; die Verbesserung des Finanz- und Steuersystems; die schnellere Internationalisierung von Chinas Währung; die Auseinandersetzung mit außerbilanzlichen Geschäften staatseigener Unternehmen; die marktorientierte Reform des Zinssatzes; die Einführung besserer Landnutzungs- und Besitzrechte; Lösungen für das Hukou-Problem; Anreize für den heimischen Verbrauch; eine Abkehr vom exportbestimmten Wachstum; die Förderung „grüner" und nachhaltiger Entwicklung; Veränderungen in der Partei- und Staatsverwaltung sowie wirksame Antworten auf Bedenken hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit und des Sozialwesens. Viele erwarten, dass Xi über die anhaltenden Bemühungen im Kampf gegen die Korruption in den Reihen der Partei, in der Regierung und der Gesellschaft als Ganzes sprechen wird. Korruption könnte sämtliche neue Reformen untergraben, daher müssen ökonomische Reformen und Maßnahmen zur Eindämmung der Korruption, vor allem von Bestechung, Hand in Hand gehen.

Falls die Diskussion im November viele, wenn nicht alle der o.a. Themen berührt, werden wir alles in allem beobachten können, dass die Ansichten der Partei von den gegensätzlichen Begrifflichkeiten eines umfassenden vs. partiellen Reformansatzes geprägt sind. Auch wenn Chinas Entwicklung sehr erfolgreich war, brauchte das Land immer wieder wichtige Reformen und eine Neuausrichtung. Häufig wurden Reformen von der Notwendigkeit diktiert. Auf der einen Seite gab es große Hemmungen, ein System radikal zu verändern, das eine der höchsten Wachstumsraten der jüngeren Geschichte produzieren und aufrechterhalten konnte. Auf der anderen Seite herrscht große Einigkeit darüber, dass sich China und der Rest der Welt zu sehr verändert haben, um einfach wie gehabt weiterzumachen.  

Außerdem gibt es andere ungelöste Probleme. China stimmt seine Reformen im Allgemeinen so ab, dass bestimmte Themen jeweils zu einem festgelegten Zeitpunkt abgehandelt werden, da man weiß, dass jede Veränderung wieder neue Notwendigkeiten schafft. Das wird als „nach den Steinen tastend den Fluss überqueren" beschrieben. Manchmal erfordern die Umstände allerdings, in enger Zusammenarbeit mit den anderen mehrere Schritte auf einmal zu machen. Viele Experten glauben, dass die Sitzung im November zeigen wird, dass die Regierung sich für einen umfassenden Reformansatz entschieden hat.

Sprechen wir über Probleme mit dem Hukou-System und was dies mit der Förderung von wirtschaftlicher Gerechtigkeit zu tun hat. Erstens betrachten viele die Reform der Einkommensverteilung und des Hukou-Systems als zwei Seiten einer Medaille. Diese Reform macht Veränderungen des Steuersystems und staatseigener Firmen erforderlich, die Verringerung der Kluft zwischen Stadt und Land im Hinblick auf Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten sowie einen Zugang zu besserer medizinischer Versorgung und Bildung. Ein Teilziel ist es, die Vergrößerung des Wohlstandsgefälles zu verhindern. Das führt oft direkt zu zwei gegensätzlichen Personengruppen: diejenigen, die sich legal in der einen oder anderen Stadt registrieren dürfen und jene, die offiziell weiter auf dem Land ihren Wohnsitz haben müssen. Wer einen Shanghai-Hukou hat, kann beispielsweise leichter von wirtschaftlichen Chancen profitieren und gegebenenfalls staatliche Unterstützung und Dienstleistungen in Anspruch nehmen, die vor allem den rechtmäßigen Einwohnern Shanghais vorbehalten sind. Auf der einen Seite hat China das Hukou-System teilweise aufrechterhalten, um die Urbanisierung besser steuern zu können. Die Beschränkungen durch den Hukou sollten Migranten davon abhalten, in großer Zahl in bestimmte Städte zu strömen und deren Dienstleistungen an die Grenzen der Belastbarkeit zu bringen, was für Instabilität gesorgt hätte. Auf der anderen Seite konnte das Hukou-System die Einwanderung zwar bremsen, aber dennoch hat eine historisch nie da gewesene Bewegung vom Land in die Stadt stattgefunden. Die Landflucht hat zu großen Teilen die wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahre beflügelt. Unglücklicherweise haben die Beschränkungen durch das Hukou-System Wanderarbeitern geschadet, da es ihnen nicht möglich war, wirklich vom Wohlstand zu profitieren, an dessen Aufbau sie beteiligt waren. Auch wenn dieses Ergebnis nicht gewünscht war, ist es doch eine der Ursachen für die wachsende Einkommensungleichheit.

Diese Ungleichheit hat viele Auswirkungen, vor allem im Hinblick auf Chinas Fortschritt in Richtung Sozialismus. Bei Beginn der Reform- und Öffnungspolitik war sich die Partei bewusst, dass „einige Personen und Regionen schneller als andere reich werden würden". Ihr war ebenso klar, dass sie in Zukunft die Einnahmen von einigen würde nutzen müssen, um denen zu helfen, die den Anschluss verpasst hatten. Niemand hat je angenommen, dass die Übergangszeit einfach werden würde, weder wirtschaftlich noch politisch. Wie entwickelt man einen Teil des Landes und seine Bevölkerung und nutzt dann einen Teil des Wohlstands und der gemachten Erfahrungen, um den Rest des Landes aufzubauen? Das ist nicht nur einfach eine Umverteilungsangelegenheit. Es kann nicht darum gehen, den Wohlstand, den ein Teil des Landes erwirtschaftet hat, zu nehmen und anderen zu geben. Das passiert natürlich manchmal, aber es sollte nur in Ausnahmefällen geschehen, da es sich schnell als nicht nachhaltig erweisen würde. Die tatsächliche Frage lautet vielmehr, wie man neue Möglichkeiten für Wachstum und Entwicklung für diejenigen erschließen kann, die dies am dringendsten brauchen, ohne dabei die Einnahmen der anderen zu opfern.

Viele sind der Ansicht, dass man auf der Sitzung im November zusammen mit der Hukou-Reform auch Probleme im Zusammenhang mit den Grundstücksrechten auf dem Land diskutieren wird.  Einige Bauern werden sich dafür entscheiden, auf dem Land zu bleiben, und angesichts der Möglichkeit, dass dort neue Chancen entstehen, die das nationale Wachstum anregen und die Kluft zwischen Stadt und Land verkleinern, sollten sie dies auch tun. Ein Problem, das vielen Landbewohnern und der Zentralregierung im Lauf der Jahre große Sorgen bereitet hat, ist der Grundstücksverkauf durch die Lokalregierungen. Die Bauern profitieren davon manchmal wenig oder gar nicht, Unruhen waren in einigen Fällen die Folge. Es gibt viele Möglichkeiten, dieses Problem anzugehen. So könnte man das Recht der Lokalregierungen, Grundstücke zu verkaufen, beschränken; eine andere Möglichkeit wäre es, die Entschädigungen für die Bauern zu verbessern; oder die Besitzrechte der Landbewohner besser abzusichern; eine weitere Option wären Vermarktungsmaßnahmen, um ländliche Regionen für bessere Investoren attraktiver zu machen, ohne ungewollte Spekulationen anzuheizen. Wahrscheinlich wird man eine Kombination dieser Maßnahmen anregen, die wiederum im Gegenzug auf örtliche Gegebenheiten zugeschnitten werden könnten. Das alles politisch auszuarbeiten und dann effizient umzusetzen, ist, wie man sieht, eine große Herausforderung und wird Disziplin und Entschlossenheit erfordern. 

Die Probleme umfassend anzugehen, ist entscheidend, um sie zu überwinden und auf dem Weg zur Erfüllung des „chinesischen Traums" voranzuschreiten. Die globale Wirtschaft ist weiterhin schwach, das heimische Wachstum kühlt sich ab, und jede Erschütterung im System in Form tiefgreifender Reformen könnte sich als störend erweisen. Dennoch scheinen viele zum ersten Mal seit langer Zeit zu glauben, dass Reformen sowohl wünschenswert als auch unvermeidbar sind. Hoffentlich gibt uns die Sitzung im November einen ersten klaren Eindruck davon, was kommen wird.

 

(Der Autor ist außerordentlicher Professor für Politikwissenschaften an der East China Normal University; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Studienzentrum für das Zeitgenössische China am Institut für Weiterführende Studien der Universität Fudan; und stellvertretender Herausgeber des Journal of Chinese Political Science in den USA)