10-10-2012
BR-Exklusiv
Welche Wirtschaftsreformen braucht China?
von Lan Xinzhen

Shanghai Tower

Ein Wanderarbeiter auf dem Hauptbahnhof in der Stadt Yinchuan des Autonomen Gebiets Ningxia der Hui-Nationalität

 

Eine unglaubliche Leistung: nach dreißig Jahren der Reform und Öffnung ist China heute die zweigrößte Volkswirtschaft der Welt, zuvor rangierte China nicht einmal unter den ersten hundert! In der Weltwirtschaft spielt das Land mittlerweile eine zentrale Rolle.

Allerdings gibt es noch Probleme in Chinas Wirtschaft, darunter eine unausgewogene Wirtschaftsstruktur, die ungleiche Verteilung des Volksvermögens und ein unzureichendes Wachstum im vergangenen Jahr.

Die Öffentlichkeit beginnt, sich für nachhaltiges Wirtschaften zu interessieren und einige Ökonomen haben sogar zu einer neuen Wirtschaftsreform aufgerufen. Welche Reformen braucht die chinesische Wirtschaft, um sich nachhaltig entwickeln zu können?

Vom 15. September bis zum 19. September nahmen mehr als 120 Wirtschaftswissenschaftler an einer Konferenz inmitten der malerischen

Gebirgswelt des Moganshan im Kreis Deqing in der ostchinesischen Provinz Zhejiang teil, um über den Kurs, die Schwerpunkte und Schwierigkeiten in der nächsten Runde

von Chinas Reform und Öffnung zu diskutieren.

Themen waren unter anderem die Reformtheorien, Makroökonomie, institutionelle Reformen und Einkommensverteilung, Urbanisierung und Landrechtsfragen sowie die

Globalisierung.

Der Vizepräsident der China Society of Economic Reform (CSER), Li Luoli, sagte, dass die Reformen in China nun in eine entscheidende Phase treten. Künftige Reformen seien sehr schwierig und komplex, und der Weg, den die Reform heute einschlüge, wäre ein ganz anderer als vor zwanzig Jahren.

 

Peng Sen, der ehemalige Vizedirektor der Staatlichen Kommission für Entwicklung und Reform, sagte auf der Konferenz, dass China bei künftigen Reformansätzen vier Arten von Beziehungen in den Blick nehmen müsste: die Beziehung zwischen Regierung und Markt, zwischen der Zentralregierung und den lokalen Regierungen, zwischen Stadt und Land sowie die Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum und Entwicklung der Gesellschaft.

 

Wege in die Zukunft

Beim Thema Wirtschaftsreform scheiden sich die Geister: Konservative Ökonomen wünschen sich eine Rückkehr Chinas zu einer gemässigten Planwirtschaft, während einige Marktradikale zu einer noch viel weitergehenden Privatisierung des Wirtschaftslebens raten. Auf der Konferenz haben die Teilnehmer eine Übereinkunft über den künftigen Reformkurs erzielt: China muss marktorientierte Prinzipien aufrechterhalten, die staatseigenen Betriebe müssen weiterhin ein Standbein der Wirtschaft sein, und administrative Monopole müssen gebrochen werden.

Gao Shangquan, Ehrenpräsident des CSER, sagte, die Reformziele seien der Aufbau einer sozialistischen Marktwirtschaft, die Verteilung von Ressourcen durch den Markt und der Übergang von der Planwirtschaft zur sozialistischen Marktwirtschaft. Daher müssen die Regeln der Marktwirtschaft eingehalten werden -- sie sollten nicht im Namen des Sozialismus gebrochen werden.

Gao ist gegen den Ausbau der Privatisierungen und glaubt stattdessen, dass die Wirtschaft weiterhin von der Regierung angeleitet werden sollte. Der Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsleben dürfe nicht Gegenstand der Reform sein.

In den frühen 70er Jahren des letzten Jahrhunderts war der Anteil der Staatswirtschaft auch in einigen entwickelten Ländern beträchtlich: 29 Prozent in Großbritannien, 33 Prozent in Frankreich, 30 Prozent in Italien und 30 Prozent in der Bundesrepublik Deutschland. In Japan erreichte sie in den frühen 1980er Jahren einen Anteil von 35 Prozent. Dennoch wäre niemand auf die Idee gekommen, diese Länder als sozialistische Länder zu bezeichnen. In Vietnam ist Präsenz der Regierung in der Wirtschaft viel geringer als in China, aber niemand bestreitet, dass es ein sozialistisches Land ist.

Allerdings tritt Gao dafür ein, dass die Regierung ihre Präsenz bei mikroökonomischen Aktivitäten reduzieren sollte. Viele Regierungsabteilungen und lokale Regierungen intervenieren weiterhin im Produktionsbereich und reden nicht nur ins Management staatlicher Monopolbetriebe rein, sondern sogar bei marktorientierten, wettbewerbsfähigen Betrieben. Dieses Ausgreifen staatlicher Intervention bereitet den Boden für Korruption, fördert die Einkommensungleichheit und beschädigt die Glaubwürdigkeit der Regierung.

"Um das Problem an der Wurzel zu packen, muss China die Reform der öffentlichen Verwaltung beschleunigen, staatliche Funktionen verändern und administrative Monopole brechen", sagte Gao. "Die Marktteilnehmer sollten in Ruhe gelassen werden und tun, wozu sie in der Lage sind. Die wichtigste Aufgabe der Regierung ist es, ein Umfeld zu schaffen, das einen fairen Wettbewerb ermöglicht."

 

Die beiden dringendsten Aufgaben

Nach drei Jahrzehnten der Reform, vor allem aber nach der Aufnahme Chinas in die WTO im Jahr 2001 -- ist die chinesische Wirtschaft zwar zunehmend marktorientiert, dennoch hat sich auch eine sozialistische Marktwirtschaft etabliert. Allerdings haben sich bei der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes zahlreiche Probleme ergeben.   Hua Sheng, Präsident der Beijing Yanjing Overseas Chinese University, meint, dass das drängendste Problem die Reform des Haushalts-Registrierung-Systems (Hukou) sei.

Das derzeitige System, so sein Argument, führe zu einer unbilligen Beschränkung der wirtschaftlichen Entwicklung. Chinas rasche Industrialisierung hat zu einem Anstieg der städtischen Bevölkerung geführt, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung im Jahr 2011 bei 51,27 Prozent lag. Allerdings können diejenigen, die aus den ländlichen Gebieten in die Städte abwandern, nicht einfach ihre Haushalts-Registrierung übertragen. Eine wachsende Zahl der in die Städte gezogenen Bauern, verfügen noch über ihren ländlichen Hukou. Ein solches System schafft gesellschaftliche Instabilität.

Die gerechte Verteilung des Volksvermögens war ein weiteres wichtiges Thema auf der Moganshan-Konferenz. Die Experten waren sich darin einig, dass die Regierung die Reform der Einkommensverteilung beschleunigen müsse.

Luo Yong, Professor an der Peking-Universität, befürwortet die so genannte  "Gleiche-Rechte-Reform": unter den gegenwärtigen rechtlichen Rahmenbedingungen und mit dem Ziel der Realisierung gleichmäßiger öffentlicher Dienstleistungen, sollte die Regierung allen Gewinn aus dem staatlichen Vermögen in einen Sozialversicherungsfonds übertragen und dann an jeden einzelnen Bürger verteilen. Als Interimslösung schlug er vor, dass der Nationale Volkskongress spezielle Verordnungen bekannt geben soll, um die Besitzenden von der „Erbsünde des Kapitalismus" loszusprechen und damit die Unsicherheit der wohlhabenden Bevölkerungskreise zu lindern.

Wang Xiaolu, stellvertretender Direktor des National Economic Research Institute der China Reform Foundation, sagte, die Regierung müsse einen Plan für eine gerechtere Verteilung des Volksvermögens unterbreiten.

Nach Wang soll die Steuerlast der Klein- und Kleinstunternehmen gemildert werden. Kleine Unternehmen sind eine wichtige Quelle für Arbeitsplätze, insbesondere für solche, die für Wanderarbeiter geeignet sind. Eine Senkung der Steuern oder gar eine Steuerbefreiung würde die Beschäftigungslage verbessern und die Einkommen von Geringverdienern erhöhen.

Zweitens sollte das Niveau der Rentenversicherung und Sozialhilfe für Familien mit niedrigem Einkommen angehoben werden. Angesichts des kläglichen Lohnniveaus in der Armutsbevölkerung reiche der gegenwärtige Sozialhilfesatz für Familien mit niedrigem Einkommen in den ländlichen Gebieten nicht aus. Wenn die Beihilfen um 30 bis 40 Prozent erhöht würden, wäre dies für die Regierung lediglich eine Belastung von 400 Milliarden Yuan, was ohne weiteres zu leisten sei.

Drittens sollte das System der Sozialversicherung alle Wanderarbeiter einbeziehen. Da diese Menschen fern ihrer Heimat leben, ist es schwer für sie, Aufnahme in das Netz sozialer Absicherung zu erlangen. Die Städte -- mit Ausnahme von Beijing, Shanghai und Guangzhou, die bereits viel für die rechtliche Gleichstellung der Wanderarbeiter getan haben -- sollten eine liberalere Hukou-Politik für Wanderarbeiter ausarbeiten.

Viertens sollten Steuergelder in nachvollziehbarer Weise genutzt und öffentlich darüber Rechenschaft abgelegt werden. Dazu zählt auch die Transparenz öffentlicher Haushalte.

 

Weitere Öffnung

Gegen ein offeneres China regt sich durchaus Widerspruch im Kreise der Experten. Da einige westliche Länder protektionistische Handelsbarrieren errichtet haben, sollte China keine Pläne zur weiteren Liberalisierung seiner Wirtschaft ausarbeiten, sagten Kritiker des Freihandels. Andere vertraten die entgegengesetzte Position, wonach China sich nicht nur weiter öffnen sollte, sondern auch eine aktive Rolle bei der Formulierung der Regeln der Weltwirtschaft spielen müsste.

Shi Zhan, außerordentlicher Professor an der China Foreign Affairs University, sagte, dass Globalisierung im Westen begonnen hatte und sich inzwischen über den Rest der Welt ausgebreitet habe. China spielt eine zentrale Rolle in diesem Prozess. Da China die Vorteile der Globalisierung erntete, ist es auch gezwungen, Reformen zu erweitern und seine Wirtschaft zu liberalisieren.

Liu Mingzhi, Forscher an der Schule für Finanzwirtschaft der chinesischen Zentralbank, die der Tsinghua Universität angegliedert ist, glaubt, dass es für Chinas Finanzwirtschaft nun an der Zeit sei, auf den internationalen Markt zu gehen. Die globale Finanzkrise im Jahr 2008 löste eine Änderung der internationalen Finanzordnung aus, die sich nun immer mehr auf die Entwicklung der Schwellenländer fokusiert. Da der Einfluss der Schwellenländer in internationalen Fragen zunimmt, wird das internationale Währungssystem gezwungen, pluralistischer zu werden. Die chinesische Finanzwelt sollte mit dem Ziel, eine gerechtere internationale Ordnung zu entwickeln, aktiver an dieser Umstellung teilnehmen.