11-09-2012
Historische Artikel der Beijing Rundschau
Bundeskanzler Schmidt in Peking

Zusammenkunft des Vorsitzenden des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses Tschu Teh mit Bundeskanzler Schmidt und seiner Gattin

Auf Einladung der chinesischen Regierung ist der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland Helmut Schmidt am 29. Oktober zu einem offiziellen Chinabesuch in Peking eingetroffen.

Um Bundeskanzler Schmidt und seiner Gattin sowie ihrer Begleitung eine herzliche Begrüßung zuteil werden zu lassen, waren die führenden chinesischen Persönlichkeiten Deng Hsiao-ping, Wu Dö, Ulanfu und Wang Dschen sowie einige tausend Pekinger auf den Flughafen gekommen, auf dem eine feierliche Begrüßungszeremonie stattfand. Blumensträuße schwenkend, riefen die Menschen: ,,Wir begrüßen herzlich Bundeskanzler Schmidt und seine Gattin!", ,,Wir heißen die hohen Gäste aus der Bundesrepublik Deutschland herzlich willkommen!", ,,Wir unterstützen entschlossen die Völker Europas in ihrem Kampf gegen den Hegemonismus!", ,,Es lebe die Freundschaft des chinesischen Volkes und der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland!" und ,,Es lebe die große Einheit der Völker der ganzen Welt!" In frohen Tänzen brachten die Jugendlichen die freundschaftlichen Gefühle des chinesischen Volkes der Bevölkerung der BRD gegenüber zum Ausdruck.

Am Tag der Ankunft von Bundeskanzler Schmidt in Peking kam der Vorsitzende des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses Tschu Teh mit Bundeskanzler Schmidt und seiner Gattin sowie anderen hohen Gästen aus der BRD zusammen.

Arn Abend desselben Tages fungierte der stellvertretende Ministerpräsident Deng Hsiao-ping im Auftrag von Ministerpräsident Tschou En-lai bei einem großen Begrüßungsbankett als Gastgeber. Er und Bundeskanzler Schmidt hielten auf dem Bankett Reden. (Auszüge aus ihren Reden s. S. 10 bis 12)

Am selben Tag veröffentlichte die ,,Renmin Ribao" anläßlich des Besuchs von Bundeskanzler Schmidt einen Leitartikel.

Im Leitartikel heißt es u. a.: ,,Das deutsche Volk ist ein arbeitsames, intelligentes Volk schöpferischen Geistes. Es hat zur Entwicklung der Wissenschaft, der Kultur und der Kunst wertvolle Beiträge für die Menschheit geleistet. Sowohl das chinesische Volk als auch die Völker der ganzen Weit schätzen all das hoch. In der modernen deutschen Geschichte gab es die finstere Periode der Herrschaft des Hitlerfaschismus, die dem deutschen Volk und den Völkern vieler anderer europäischer Länder tiefes Unheil gebracht hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland aus jedermann bekannten Gründen in zwei Staaten geteilt. Das chinesische Volk sympathisiert zutiefst mit dem deutschen Volk und unterstützt sein gerechtes Verlangen, entschlossen gegen die Verewigung der Spaltung der deutschen Nation zu kämpfen und die nationale Einheit zu fördern. Es unterstützt entschlossen das deutsche Volk und die Völker der verschiedenen Länder Europas in ihrem gerechten Kampf zur Wahrung der nationalen Unabhängigkeit und Sicherheit und gegen den Hegemonismus der Supermächte."

Im Leitartikel wird betont: ,,Die beiden Supermächte betreiben wie wild ihr Wettrüsten und forcieren ihr Ringen um die Vorherrschaft in der Welt. In Europa, dem Schwerpunkt ihrer Rivalität, wird die Lage immer labiler. Besonders jene Supermacht, die das Lied des Friedens am lautesten anstimmt, richtet säbelrasselnd ihre gierigen Blicke auf Europa. Sie hat in Mitteleuropa massiv Truppen stationiert und verdoppelt ihre Anstrengungen, um Westeuropa von der südlichen und der nördlichen Flanke zu umzingeln. Auf diese Weise wird sie zu einer immer ernster werdenden militärischen Bedrohung der Unabhängigkeit und Sicherheit der europäischen Länder. Angesichts dieser Situation unterstreichen viele westeuropäische Länder die Notwendigkeit des verstärkten Zusammenschlusses Westeuropas und der Stärkung des Verteidigungspotentials aller Länder dort. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland bemüht sich ebenfalls um die Förderung des Zusammenschlusses Westeuropas und vertritt die Ansicht, es müsse der 'Wille zur eigenen Verteidigung' gestärkt werden, um mit der Bedrohung durch die Supermächte fertig zu werden. Gleichzeitig legt sie mehr Gewicht auf die Verbesserung der Beziehungen zwischen ihr und den Ländern der Dritten Welt. All dies begünstigt die Einheit der Völker Europas und der Welt gegen den Hegemonismus."

Zum Schluß heißt es im Leitartikel: ,,Es bestehen zwischen dem chinesischen und dem deutschen Volk seit langem freundschaftliche Beziehungen. Seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und der Bundesrepublik Deutschland im Oktober 1972 haben die Beziehungen der beiden Staaten und die wirtschaftlichen Verbindungen, die auf den Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz beruhen, bemerkenswerte Fortschritte gemacht." ,,Wir sind fest davon überzeugt, daß der gegenwärtige Besuch von Bundeskanzler Schmidt in China zur weiteren Förderung der Entwicklung der guten Beziehungen zwischen den beiden Ländern und zur Vertiefung der gegenseitigen Verständigung und Freundschaft positiv beitragen wird."

Am 31. Oktober gab Bundeskanzler Schmidt ein Abschiedsbankett. Bei diesem von freundschaftlicher Atmosphäre erfüllten Bankett hielten Bundeskanzler Schmidt und der stellvertretende Ministerpräsident Deng Hsiao-ping Tischreden.

Bundeskanzler Schmidt sagte: ,,Die politischen Gespräche, bei denen wir sowohl unsere beiderseitigen Beziehungen als auch weltpolitische und weltwirtschaftliche Fragen erörtert haben, haben meine Eindrücke sehr ergänzt und vertieft. Wir, Herr Vizepremierminister, haben den Meinungsaustausch, den ich vor einem Jahre mit Ihrem Außenminister in Bonn, Herrn Tjiao, begonnen habe, wir haben diesen Meinungsaustausch fortgesetzt mit dem Ziel, ein wachsendes gegenseitiges Verständnis zu entwickeln."

Er sagte: ,,Der Höhepunkt der Begegnungen, die ich in Ihrem Lande hatte, war unser gestriges Gespräch mit dem Vorsitzenden Mao Tsetung, der auf mich einen tiefen persönlichen Eindruck gemacht hat."

Er fuhr fort: ,,Wir haben darin übereingestimmt, daß wir den politischen Meinungsaustausch in Zukunft intensivieren wollen. Und ich möchte in diesem Zusammenhang die Einladung an Sie, Herr Vizepremierminister, unterstreichen, uns möglichst bald in Bonn zu besuchen."

,,Die Abkommen, die unsere Kollegen und Mitarbeiter heute abend hier unterzeichnet haben, wie auch die Vereinbarung über die Einsetzung der gemeinsamen Kommission zur Förderung des wirtschaftlichen Austausches zwischen beiden Ländern sollen einen zusätzlichen Anstoß geben für eine wachsende Zusammenarbeit auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Die Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen ist von großer Bedeutung für unsere beiden Länder."

Bundeskanzler Schmidt und seine Gattin werden auf dem Flughafen herzlich willkommen geheißen.

,,Eine weitere Aufgabe liegt in der zukünftigen engeren Gestaltung unserer kulturellen Zusammenarbeit. Und ich hoffe, daß das grundsätzliche Einverständnis, welches wir erzielten, bald in die Praxis umgesetzt; werden kann."

Der stellvertretende Ministerpräsident Deng Hsiao-ping sagte: ,,In den letzten Tagen hat zwischen unseren beiden Seiten ein Meinungsaustausch über internationale Fragen gemeinsamen Interesses und über bilaterale Beziehungen stattgefunden. Soeben wurden das Abkommen über den Seeverkehr und das Abkommen über den Zivilluftverkehr zwischen den beiden Staaten unterzeichnet und Briefe über die Bildung einer gemischten Kommission zur Förderung der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen den beiden Staaten ausgetauscht. All dies trägt dazu bei, das gegenseitige Verständnis zu stärken, die Beziehungen zwischen den beiden Staaten zu entwickeln und die Freundschaft zwischen unseren beiden Völkern zu fördern. Wir sind überzeugt, daß durch gemeinsame Anstrengungen der beiden Völker und Regierungen die Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten eine weitere Entwicklung erfahren werden."

,,Herr Bundeskanzler Schmidt hat vorgestern von der europäischen Einigung gesprochen. Wir halten diese für sehr wichtig. Der Zusammenschluß der europäischen Länder ist ein geschichtliches Erfordernis. Einigkeit macht stark, bei Desintegration wird man leicht der Tyrannei ausgesetzt. Die Hegemonisten entlarven, indem sie gegen den Zusammenschluß Europas auftreten, selber ihre Expansionsambition, die westeuropäischen Länder auseinanderzudividieren und dann mit Gewalt ihre Vorherrschaft in Europa durchzusetzen. Wir sind jedoch fest davon überzeugt, daß die Völker der europäischen Länder, wenn sie ihren Zusammenschluß verstärken und den Mut zu kämpfen haben, über den Hegemonismus siegen werden."

Heute ist Herr Bundeskanzler Helmut Schmidt nach einer langen Reise zu einem offiziellen Besuch in China eingetroffen. Das ist ein großes Ereignis in den Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten, und wir freuen uns sehr darüber. Im Auftrag von Ministerpräsident Tschou En-lai fungiere ich heute abend bei diesem Bankett als Gastgeber. Gestatten Sie mir, im Namen der chinesischen Regierung und des chinesischen Volkes Herrn Bundeskanzler Schmidt und seine Gattin sowie die anderen hohen Gäste aus der Bundesrepublik Deutschland herzlich willkommen zu heißen.

Die deutsche Nation ist eine Nation mit schöpferischem Geist. Das deutsche Volk hat zur Entwicklung der Weltgeschichte und zur Bereicherung des geistigen Reichtums der Menschheit hervorragende Beiträge geleistet. Wie allen bekannt ist, hat eben die Verbindung der revolutionären Theorie, die von den besten Repräsentanten des deutschen Volkes begründet wurde, mit der konkreten Praxis der chinesischen Revolution eine völlig neue Periode im Denken und Leben des chinesischen Volkes eingeleitet und das Antlitz Chinas von Grund auf verändert. Dem deutschen Volk gegenüber hegt das chinesische Volk seit jeher freundschaftliche Gefühle. Wir unterstützen das deutsche Volk und sympathisieren mit ihm in seinem Kampf gegen die Schikane, Einmischung und Bedrohung seitens der Hegemonisten.

China und die Bundesrepublik Deutschland haben unterschiedliche Gesellschaftssysteme, und ihr Standpunkt und ihre Praxis in vielen internationalen Fragen sind auch nicht gleich. Nichtsdestoweniger haben wir beiderseits den Wunsch, die Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten auf der Grundlage der Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz zu pflegen und zu entwickeln. Unsere beiden Seiten versuchen nicht, den eigenen Standpunkt der anderen Seite aufzuzwingen, ebensowenig werden sie gegeneinander Gewalt anwenden oder einander Gewalt androhen. Deshalb haben in den kurzen drei Jahren seit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten die Beziehungen auf den Gebieten des Handels, der Wissenschaft und Technik, des Sports und der Kultur eine verhältnismäßig schnelle Entwicklung erfahren. Die freundschaftlichen Kontakte zwischen den beiden Regierungen und den beiden Völkern haben ebenfalls ständig zugenommen. All das hat zum gegenseitigen Verständnis und zur Vertiefung der Freundschaft zwischen unseren beiden Völkern beigetragen. Das ist zufriedenstellend und entspricht auch den Interessen unserer beiden Völker.

Die Entwicklung der internationalen Lage bewegt die Völker der Welt gegenwärtig sehr stark. Ist die Entspannung in ein neues Stadium eingetreten oder wächst die Gefahr eines neuen Weltkriegs an? Dies ist eine außerordentlich ernste Frage.

Es ist voll und ganz verständlich, daß die europäischen Völker, die zwei Weltkriege erlebt haben, Frieden und Sicherheit wünschen. Das chinesische Volk, das viel Leid und Not durchgemacht hat, hofft ebenfalls, in einer relativ günstigen Umwelt die sozialistische Revolution und den sozialistischen Aufbau in seinem Land durchzuführen. Aber der Wind will nicht aufhören zu wehen, auch wenn die Bäume Ruhe wünschen. Die rauhe Wirklichkeit ist, daß die Supermächte ihre Rivalität um die Vorherrschaft in der Welt forcieren. Überall, wo sie miteinander ringen, gibt es keine Ruhe. Der Schwerpunkt ihrer Rivalität liegt in Europa. Nach der Beendigung des II. Weltkriegs sind 30 Jahre verstrichen, und in Europa herrscht nach wie vor ein Zustand der immer schärfer werdenden bewaffneten Konfrontation, was zu tiefem Nachdenken anregt. Jetzt hat man klar erkannt, daß gerade diejenige Supermacht, die das Lied von Entspannung und Abrüstung am lautesten anstimmt, in forcierter Weise Aufrüstung und Kriegsvorbereitung betreibt, eine offensive Stellung weit über die Bedürfnisse ihrer Verteidigung beibehält und die Völker Europas und der ganzen Welt bedroht. Es muß eines Tages zum Krieg kommen, wenn die Supermächte derart heftig ihre Rivalität fortsetzen und derart wahnwitzig ihre Aufrüstung weitertreiben. Die Hegemonisten spielen sich, um die Menschen hinters Licht zu führen, oft als ,,Friedensengel" auf. Aber man muß, wie ein chinesisches Sprichwort besagt, ,,das Wort anhören und die Tat abwarten". Verträge und Erklärungen, welcher Art sie auch sein mögen, können von ihnen jederzeit zerrissen werden. In dieser Hinsicht haben die Völker der Welt bereits viele Erfahrungen gemacht und Lehren gezogen. Daher muß man auf der Hut sein und Vorbereitungen dagegen treffen, darf nicht in der Wachsamkeit nachlassen. Sonst wird es teuer zu stehen kommen.

Die Entwicklung der Geschichte kann zwar Windungen und Wendungen haben, aber es ist sicher, daß die Welt dem Licht und Fortschritt entgegengeht. Die Gerechtigkeit ist nicht auf der Seite des Hegemonismus, sondern auf der Seite der Völker der Welt. Die Supermächte stecken innen- und außenpolitisch in der Klemme, sie haben es immer schwerer. Die Hegemonisten treiben skrupellos ihr Unwesen, und das birgt schon Faktoren ihrer Niederlage in sich. Die gegenwärtige internationale Lage ist ausgezeichnet. Staaten wollen Unabhängigkeit, Nationen wollen Befreiung, und Völker wollen Revolution, das ist schon zu einer unwiderstehlichen Strömung der Geschichte geworden. Der Zusammenschluß und Kampf der Länder der Dritten Welt hat den Kampf der Völker der Welt gegen Kolonialismus, Imperialismus und Hegemonismus auf eine neue Stufe gehoben. Auch die Staaten der Zweiten Welt haben ihren Kampf gegen die Kontrolle, Einmischung, Subversion und Gewaltandrohung durch die Supermächte verstärkt. Die Tendenz der westeuropäischen Länder zur Einigung gegen den Hegemonismus entwickelt sich weiter. Wie allen bekannt ist, unterstützen die chinesische Regierung und das chinesische Volk die Anstrengungen der westeuropäischen Länder für die Einigung zur Stärkung ihrer Kräfte und begrüßen den Dialog zwischen den Ländern der Zweiten und der Dritten Welt und den Ausbau ihrer Verbindungen auf der Grundlage der gegenseitigen Achtung der Souveränität und der Gleichberechtigung.

Herr Bundeskanzler Schmidt ist zur Zeit des 3. Jahrestages der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten in unser Land gekommen. Das bietet uns die Gelegenheit, über die Beziehungen unserer beiden Länder und über beide Seiten interessierende Fragen Meinungen auszutauschen, was sehr nützlich ist. Wir sind überzeugt, daß dieser Besuch zur gegenseitigen Verständigung und zur Entwicklung der Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern beitragen wird.

Ich wünsche Herrn Bundeskanzler Schmidt vollen Erfolg bei seinem Besuch.

Zunächst sehr herzlichen Dank, auch im Namen meiner Frau und meiner Delegation, für Ihre liebenswürdige Gastfreundschaft und für die freundlichen Worte, die Sie soeben an uns gerichtet haben. Wir freuen uns, Ihre Gäste zu sein. Der Empfang, der uns heute morgen bei der Ankunft in Peking zuteil geworden ist, hat uns die große geographische Entfernung vergessen lassen, die unsere beiden Völker trennt. Wir haben eben mit Bedauern gehört, daß Herr Ministerpräsident Tschou En-lai, dessen Einladung wir gefolgt sind, heute abend nicht bei uns sein kann, und wir hoffen mit Ihnen auf eine baldige Wiederherstellung der Gesundheit dieses hervorragenden Mitarbeiters Ihres Vorsitzenden Mao Tsetung.

Die Gespräche, die ich heute mit Ihnen, Herr Vizepremier, und mit den führenden Personen Ihres Landes aufgenommen habe, verlaufen in einer Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens. Und es ist so, wie Sie es gerade eben gesagt haben, keiner will dem anderen seinen Standpunkt aufzwingen, aber jeder hört mit großem Interesse zu, was der andere zu sagen hat.

Es ist in diesen Tagen besonders wichtig, über die uns alle gemeinsam betreffenden Fragen zu sprechen. Alle Fragen der Weltpolitik — und ich würde sagen, auch der Weltwirtschaft — müssen gegenwärtig von allen Völkern durchdacht werden, denn im Alleingang sind Lösungsversuche zum Scheitern verurteilt. Die Probleme haben einen globalen Charakter und die Staaten werden zunehmend gegenseitig abhängiger von der globalen Entwicklung.

Wachstum und Entwicklung sowohl der Entwicklungsländer als auch der Industrieländer sind gleicherweise bedroht, und die Probleme der Weltwirtschaft gefährden auch die Stabilität der sozialen und politischen Strukturen. Sie drohen oder bedrohen den internationalen Frieden.

Wir wissen, daß der Weg zur sozialen Gerechtigkeit und zum Wohlstand für alle ein langer Weg und ein mühsamer Weg ist. Und natürlich kann er beschleunigt werden durch mehr Hilfe von seiten der Industriestaaten. Für den Aufstieg ist jedoch ein eigener Beitrag durch harte Arbeit und durch Opfer von Generationen erforderlich. Der Vertreter Ihres Landes hat, wie wir meinen, mit Recht vor der kürzlichen Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen diese historische Erfahrung der Völker hervorgehoben.

Man kann den Gedankengang von vorhin auch umkehren und kann sagen, wirtschaftliches Wachstum erfordert Stabilität, und Stabilität setzt den Frieden voraus. An der Erhaltung des Friedens mitzuwirken, ist unser aller Aufgabe und Verantwortung. Die Bundesrepublik Deutschland arbeitet im Rahmen der Vereinten Nationen an der Lösung dieser Aufgaben mit, und sie bemüht sich darum in den einzelnen Regionen. Dabei bleibt das atlantische Bündnis zwischen Nordamerika und Europa die unveränderte Grundlage der Sicherheit unseres Landes. Auf der Grundlage dieses Bündnisses sorgen wir zu unserem Teil dafür, daß das politische und daß das militärische Gleichgewicht auf dem Erdball nicht gefährdet werde.

In der politischen Partnerschaft eines zusammenwachsenden Europas hat die Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahren alle Bemühungen unterstützt, die unter Berücksichtigung der legitimen Sicherheitsinteressen aller Völker und unter Berücksichtigung der in Europa entstandenen Lage geeignet sind, eine Atmosphäre des Vertrauens und der Entspannung zu schaffen. Diesem Ziel gelten unsere Verträge mit unseren Nachbarn in West und Ost, auch mit der Sowjetunion, ebenso wie unsere Mitwirkung am Zustandekommen des Viermächte-Abkommens über Berlin. All dies ist Teil unserer Gleichgewichtspolitik.

Bei alldem hat mein Land von jeher den Verzicht auf die Androhung und auf die Anwendung von Gewalt als Grundlage seiner Politik betrachtet. Das gilt auch und gerade in Bezug auf die Änderung von Grenzen. Grenzen sind unverletzlich, sie müssen aber friedlich und einvernehmlich auch verändert werden können. Unser Ziel bleibt es, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.

Die politische Führung Ihres Landes und Ihrer Regierung, Herr Vizepremier, hat immer Verständnis dafür bekundet, daß die Völker Westeuropas sich enger zusammenschließen. Die Ernennung eines chinesischen Botschafters bei der Europäischen Gemeinschaft vor wenigen Wochen hat diese Einstellung noch einmal unterstrichen, die wir zu schätzen wissen. Denn der Fortschritt des europäischen Einigungsprozesses liegt uns ganz besonders am Herzen. Obwohl sich angesichts der unterschiedlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen unter den Mitgliedstaaten und zumal in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten Verzögerungen einstellen können, so hat doch dieses werdende Europa immer wieder die Kraft zu mehr Gemeinsamkeit gefunden und immer wieder neue Impulse möglich gemacht. Die enger werdende europäische politische Zusammenarbeit hat eine zunehmende Harmonisierung der Ansichten der Regierungen mit sich gebracht und zu gemeinsamem außenpolitischen Handeln geführt, um ein Beispiel zu nennen, wie etwa in dem europäisch-arabischen Dialog.

Daß diese europäische Gemeinschaft zu einer weltpolitischen Kraft heranwachsen wird, hat der Vertrag von Lome zwischen der Gemeinschaft einerseits und 46 Staaten der afrikanischen, karibischen und pazifischen Welt andererseits bewiesen, der einen konstruktiven Beitrag zur Lösung weltweiter Probleme leistet. Wir freuen uns, daß Ihre Regierung gerade diese Bemühungen der Europäischen Gemeinschaft positiv bewertet hat.

Vor dem Hintergrund der großen weltpolitischen Fragen sehe ich auch unsere deutsch-chinesischen Beziehungen, die wir durch diesen ersten Besuch eines deutschen Kanzlers in China festigen und fortentwickeln wollen.

In unseren Augen rechtfertigt die Bilanz der seit drei Jahren bestehenden Beziehungen zwischen unseren Ländern positive Erwartungen für die Zukunft. Wir konnten auf weit in die Geschichte zurückreichende Kontakte zwischen unseren beiden Völkern aufbauen. Der Austausch hat sich über einen längeren Zeitraum selbständig auf zusätzliche Bereiche ausgedehnt. Und ich denke, bei diesem Rückblick soll nicht unerwähnt bleiben, daß der Wandel der Zeit Deutschland und China in starker Weise berührt hat.

Dem neuen China ist es gelungen, durch eindrucksvolle Anstrengungen, welche die ganze Welt mit Staunen erfüllen, aus einer Agrargesellschaft einen Industriestaat zu machen, den hervorragende technische Leistung und einzigartige Prägung auszeichnen.

Wir stellen mit Genugtuung fest, daß dieses neue China heute den ihm zustehenden Platz in der Staatengemeinschaft einnimmt.

Als gemeinsame Aufgabe haben wir den Ausbau der Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern vor uns. Aber es gilt in erster Linie den politischen Meinungsaustausch zu intensivieren und den kontinuierlichen Aufschwung des Warenaustausches und der wirtschaftlichen Kooperation, die durch die in diesem Jahr gezeigten Ausstellungen in Köln und in Peking neue Impulse haben, zu einem höheren Niveau unserer Wirtschaftsbeziehungen zu führen. Die neuen Möglichkeiten, die sich im Zusammenhang mit diesen beiden Ausstellungen abgezeichnet haben, müssen wir voll ausschöpfen. Dies wird ein wichtiger Gesichtspunkt sein, so denke ich, bei unseren kommenden Gesprächen.

Auch der Austausch von Studenten und Wissenschaftlern, der begonnen hat, wird darüber hinaus ein breiteres Kennenlernen und Verstehen ermöglichen.

Herr Vizepremier, die Beziehungen zwischen unseren Regierungen sind auf einem guten Weg. Lassen Sie uns die vor uns liegenden Tage nutzen, gemeinsam das Wohl unserer Völker zu fördern. (Quelle: Beijing Rundschau, Nr. 44, 1975)