Ein Leben ohne E-Mail-Account, Chatprogramm, Soziale Netzwerke oder Online-Spiele ist für viele heute kaum noch denkbar. Was aber geschieht mit dem digitalen Erbe, wenn der Internetuser plötzlich aus der realen Welt scheidet? Der Fall einer Witwe aus Shenyang, die Zugang zum Sofortnachrichten-Account ihres verstorbenen Mannes beim Internetanbieter Tencent beantragte und abgewiesen wurde, hat in China eine heftige Debatte um die Rechte an Online-Nutzerkonten und deren Inhalte angestoßen.
Tecent
Als Frau Wang aus Shenyang, Hauptstadt der nordostchinesischen Provinz Liaoning, sich kürzlich an Tencent wandte, den Betreiber von Chinas beliebtester Chat- und Social-Network-Plattform QQ, und um Zugang zum Nutzerkonto ihres Mannes bat, erteilte ihr das Unternehmen eine Abfuhr. Wangs Ehemann war einige Wochen zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Nun wünschte sich die Witwe Zugang zu alten E-Mails und Fotos aus den Anfangstagen ihrer Beziehung, die auf dem QQ-Account ihres verstorbenen Gatten gespeichert waren. Das Problem: Frau Wang kannte das Passwort nicht. Tencent verwies auf seine Nutzungsbedingungen und erklärte, rechtlich gesehen gehöre das Konto eher dem Betreiber als dem Nutzer.
Mit dieser Antwort wollte sich Wang nicht zufrieden geben und wandte sich mit ihrer Geschichte an die Medien. Die lokale Tageszeitung „China Business Morning View" berichtete über den Fall. Wang sah nicht ein, weshalb ihr der Zugang zu dem Nutzerkonto ihres Mannes verwehrt werden sollte, was sie als legitimen Online-Nachlass ihres verstorbenen Mannes ansah. Der Fall sorgte schließlich auch über die Grenzen Shenyangs hinaus für Aufsehen und geriet landesweit in die Schlagzeilen. Auch unter Chinas Internetnutzern löste Wangs Kampf und das digitale Erbe ihres Gatten eine heftige Debatte aus. Der Tenor in zahlreichen Online-Foren, Blogs und Sozialen Netzwerken: Tencent verhalte sich „unmenschlich" gegenüber verstorbenen Nutzern und deren Hinterbliebenen.
In einem späteren Statement wiegelte das Onlineunternehmen ab: Im Falle Wangs handele es sich lediglich um eine „Verzögerung", die in den strengen Richtlinien zum Schutz der Privatsphäre der Kunden des Unternehmens begründet sei. Gleichzeitig versicherte Tencent, alles daran zu setzen, Wang beim Zugang zum Nutzerkonto ihres Mannes zu unterstützen. Erst müsse allerdings die Identität der Frau von den lokalen Behörden eindeutig verifiziert werden.
Wangs Fall rief auch andere QQ-Nutzer auf den Plan, die sich Gedanken über die Rechte an ihrem digitalen Eigentum machen. In der „China Business Morning View" meldete sich etwa ein QQ-Nutzer namens Liu zu Wort, dessen sechsstellige QQ-Kennung eine besonders seltene und vermeintlich Glück verheißende Zahlenkombination trägt. In China gilt eine auffällige QQ-Nummer, die etwa die Glückszahlen 6 oder 8 beinhaltet, ähnlich wie glücksbringende Autokennzeichen als nicht minderer Vermögenswert. Angebote in Höhe von bis zu 10 000 Yuan, stolze 1170 Euro, habe Liu bereits für seine QQ-Nummer erhalten, erklärte der Mann gegenüber der Zeitung. Er betrachte seine Nutzerkontonummer von daher als realen Vermögenswert, gleichbedeutend etwa mit einer wertvollen Vase. Nach seinem Tod wolle er diesen natürlich an seine Kinder weitergeben.
Auch Nutzer von Onlinespielen argumentierten in ähnlicher Weise. Über Jahre hinweg von ihnen erspielte Punktestände und virtuelle Ausrüstungsgegenstände seien sogar noch wertvoller und müssten deshalb rechtlich geschützt werden und den gleichen gesetzlichen Status wie reale Besitztümer erhalten, so ihre Forderung.
Wem gehört der Account?
In den Nutzungsbedingungen von Tencent ist festgeschrieben, dass das Recht zur Nutzung eines QQ-Accounts ausschließlich beim ursprünglichen Antragsteller liegt. Dieses Nutzungsrecht dürfe im Nachhinein weder verschenkt, verliehen, vermietet, übertragen geschweige denn verkauft werden. „Vergleichbare Klauseln finden sich in den Nutzungsbedingungen fast aller Onlinedienste", erklärt der Internetexperte und langjährige Beobachter des Onlinemarktes Zhang Yi gegenüber der „Yangcheng Evening News" aus Guangzhou, Provinz Guangdong. „Wer einen Account anmeldet, dem wird lediglich das Recht eingeräumt, die digitalen Produkte zu nutzen, sie gehören ihm deshalb aber noch lange nicht." Eine Regelung, die für Zhang auch durchaus Sinn macht. Ansonsten hätten die Nutzer beispielsweise im Falle des Bankrottes eines Serviceanbieters Anspruch auf Entschädigung.
Vor diesem Hintergrund sollten nach Auffassung des Experten nur kostenpflichtige digitale Produkte als virtuelle Vermögenswerte angesehen werden. „Man kann zwar argumentieren, dass die Nutzer viel Zeit und Mühe in die Pflege ihrer Accounts investieren und damit dessen Wert kontinuierlich steigern, aber dieser Mehrwert existiert schließlich nur solange, wie der Dienstanbieter seinen Betrieb aufrecht erhält."
Trotzdem fordern einige Rechtsexperten, die Definition für virtuelle Vermögenswerte zu erweitern. Zhao Zhanling, Forscher am Zentrum für geistiges Eigentumsrecht an der Beijinger Universität für Politik- und Rechtswissenschaften, glaubt, dass virtuelle Vermögensgüter genau wie alle anderen Güter einen realen Wert besitzen. „Sowohl Nutzerkonten bei Sofortnachrichtendiensten als auch Accounts bei Onlinespiele-Anbietern oder Mikroblogs erfüllen die Kriterien für klassische Vermögensgegenstände, auch wenn sie sich natürlich von herkömmlichen Besitzgütern unterscheiden", so Zhao. Deshalb sollten seiner Auffassung nach auch Kontostände und Rankings in Onlineforen oder bei Onlinespielen als Vermögenswerte gelten. Schließlich investierten die Nutzer Zeit, Anstrengung und in manchen Fällen sogar Geld in deren Pflege und Aufwertung.
Fakt ist, dass bis heute keine klare rechtliche Definition virtueller Vermögenswerte in China existiert, geschweige denn ein Gesetz, das diese schützen könnte. Einen ersten Vorstoß in diese Richtung wagte 2003 eine Gruppe von 19 Juristen aus der südwestchinesischen Provinz Sichuan. Sie reichten beim Nationalen Volkskongress (NVK) einen Antrag ein, in dem sie den NVK aufriefen, gesetzliche Regelungen für virtuelle Vermögenswerte auszuarbeiten. Hintergrund des Vorstoßes war der Fall eines Nutzers von Onlinespielen, der sich an die lokale Polizei gewandt hatte, nachdem ihm sein Spiele-Account sowie alle darin enthaltenen Punktestände gestohlen worden waren. Die Behörden weigerten sich jedoch zu ermitteln.
2008 veröffentlichte Chinas Steuerbehörde auf ihrer Homepage eine Meldung, in der sie Privatpersonen, die über den Verkauf von virtueller Währung aus Onlinespielen Gewinne erzielten, dazu aufrief, auf diese 20 Prozent Einkommenssteuer zu entrichten. Von Rechtsexperten wurde diese Regelung als indirekte Anerkennung virtueller Vermögenswerte als Teil der realen Wirtschaft gewertet.
Im Juni 2009 dann veröffentlichten Kultus- und Handelsministerium gemeinsam eine weitere Mitteilung, die sich mit der Verwendung der über Onlinespiele erspielten virtuellen Währung befasste. Virtuelle Währung sei nur gegen virtuelle Güter oder Dienstleistungen des jeweiligen Anbieters eintauschbar, nicht jedoch gegen reale Güter oder Dienstleistungen anderer Anbieter, hieß es in dem Papier.
Angesichts der landesweit steigenden Zahl von Fällen, in denen mit den Nutzerkonten von Onlinespielen bzw. Spielständen gehandelt wird oder diese gestohlen werden, haben sich jüngst Abgeordnete des NVK gemeinsam mit Rechtsprofessoren und einigen Betreibern von Social-Network-Seiten an Chinas Obersten Volksgerichtshof gewandt. Die Forderung: eine juristische Interpretation zur Behandlung virtueller Vermögenswerte. In einer Reaktion erklärte der Gerichtshof, es sei derzeit unmöglich, derartige juristische Auslegungen zu formulieren, da es bisher an geltenden Rechtsgrundlagen mangele. „Die Onlineunternehmen und ihre Kunden werden bisher dazu ermutigt, Streitigkeiten über Schlichtungsverfahren beizulegen. Außerdem werden die Gerichte dazu angehalten, derartige Fälle ordentlich zu prüfen und möglichst aussagekräftige Regelungen zu treffen", erklärt Haijun, Rechtsprofessor an der Volksuniversität in Beijing in einem Interview mit der Beijinger Zeitung „Procuratorate Daily".
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