25-11-2011
Rückblick
Aufklärung im Dialog IV: Aufklärung und Moderne
von Zeng Wenhui

Aufklärung im Dialog IV: Aufklärung und Moderne

 

Professor Gan Yang, Institute for Advanced Studies in Humanities der Sun Yat-sen Universität in Guangzhou

 

Die vierte Veranstaltung der Reihe „Aufklärung im Dialog", des Begleitprogramms zur Ausstellung „Kunst der Aufklärung" fand am 11. November im National Museum of China statt. Das Forum „Aufklärung und Moderne" widmete sich der Aufklärung und ihren Auswirkungen auf die modernen Gesellschaften Chinas, Europas und Deutschlands.

Professor Gan Yang vom Institute for Advanced Studies in Humanities der Sun Yat-sen Universität in Guangzhou, Professor Huang Ping vom Institut für Amerikanistik bei der  Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften und Professor Zhao Tingyang vom Institut für Philosophie bei der  Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften  diskutierten mit den Gästen aus Deutschland, Professor Hans Feger vom Institut für Philosophie und vom Institut für deutsche und niederländische Philologie an der Freien Universität Berlin, Dr. Hans-Jürgen Lüsebrink, Professor für Romanische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation an der Universität des Saarlandes. Professor Wolf Lepenies vom Institut für Soziologie an der Freien Universität Berlin konnte aus Gesundheitsgründen nicht vor Ort sein, hielt seinen Vortrag aber per Video.

Zur Sprache kamen Fragen wie: Wie hat die Aufklärung in China und Europa unsere moderne Gesellschaft beeinflusst? Welche aufklärerischen Werte und Ideen sollten bewahrt werden, welche nicht?

Professor Gan Yang hat seinen Vortrag mit „Warum es in China keinen Einspruch gegen die Aufklärung gibt" überschrieben. Ausgangspunkt ist ein Satz von Immanuel Kant: „Befreiung vom Aberglauben heißt Aufklärung." (Kritik der Urteilskraft, § 40). Wenn man über Aufklärung spricht, so Professor Gan, müsse man zuerst fragen, was der größte Aberglaube in einer Zeit beziehungsweise einer Weltgegend sei. Im Westen fanden mindestens drei „Aufklärungen" statt. Erstens, die im alten Griechenland. Damals war der größte Aberglaube der Mythos, Aufklärung bestand demnach darin, den Mythos durch die Philosophie zu überwinden. Die zweite Aufklärung ist die allgemein bekannte Aufklärung im 18. Jahrhundert. Der größte Aberglaube war damals der in den christlichen Konfessionen vorherrschende  Autoritätsglaube, deshalb ist Aufklärung wie von Kant klassisch definiert „der Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit" verbunden mit der klaren Anweisung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Die dritte Aufklärung ist die Reflexion über die Aufklärung selbst. Von den 50er bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts haben viele westliche Denker über die zweite Aufklärung nachgedacht, um sich von deren Begleiterscheinungen wie Technikgläubigkeit, instrumentelle Vernunft etc. zu emanzipieren.

Gan Yang sagt: „Bei der Befreiung von einem Aberglaube durch Aufklärung wird ein neuer Aberglaube geschaffen, weshalb ein 'Einspruch gegen Aufklärung' hilfreich für die gesunde Entwicklung aufgeklärten Denkens ist. Ohne diese Gegenrede kann sich die Aufklärung nicht von selbst geschaffenem neuen Aberglauben befreien."

Bei der Debatte über Aufklärung in China sollte zuerst darüber diskutiert werden, was der größte Aberglaube ist, von dem es China zu befreien gilt.

Gan Yang setzt die erste Aufklärung in China mit dem Denken des Konfuzius an, der sich gegen den „Aberglauben" an die Andersartigkeit des Sklaven und den „Aberglauben" an den Hegemon wandte. Die Morallehre des Konfuzianismus setzte mit dem Begriff der „Menschlichkeit" (ren) den Menschen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Diese Aufklärung brachte jedoch den Aberglauben von der Überlegenheit und Einzigartigkeit der chinesischen Zivilisation hervor. Über der Begegnung mit der zweiten Aufklärung zerbrach dieser Aberglaube. Die Chinesen begannen von der zweiten Aufklärung des Westens zu lernen. „Allerdings," so Gan,  „hat diese neue Aufklärung in China auch einen neuen Aberglauben geschaffen, dass die westliche Zivilisation die höchste Zivilisation sei, dass der Mond des Westens runder ist als der Chinas. Sie hat die traditionelle chinesische Zivilisation gründlich und allseitig abgelehnt", sagt Gan Yang.

Im gesamten 20. Jahrhundert gab es wohl kein Land, das seine eigenen Traditionen so radikal negiert habe wie China. Gerade in der zweiten Aufklärung in China fehlte es an einem „Einspruch gegen die Aufklärung", der zu einem sinnvollen Ausgleich hätte führen können. Die Hauptströmungen des chinesischen Denkens im 20. Jahrhundert verzichteten nie auf die Anerkennung des Lernens von der zweiten Aufklärung des Westens. Aufschlussreich sei, dass fast alles, was sich im China des 20. Jahrhunderts ereignet habe, eine Folge des Lernens vom Westen gewesen sei. Niemand aber denke daran, dass die Fehler, die im 20. Jahrhundert in China gemacht worden seien, mit diesem Lernen vom Westen zu tun haben. Stattdessen glaubt man, dass man nur nicht genug vom Westen gelernt habe. Dies sei ein großer Unterschied zwischen China und dem Westen beim Umgang mit der Aufklärung, so Gan Yang weiter.

Wenn man danach fragt, welche Aufklärung China jetzt bräuchte, muss man zunächst fragen, was der größte Aberglaube in China ist. Gan erklärt, dass fast alle Wissenschaftler in China in der Nachfolge der Aufklärung stünden, dies sei das größte Problem. Der größte Aberglaube in China ist der Aberglaube an den Westen, vor allem der Glaube an die zweite Aufklärung im Westen. Deshalb könnten sich die Chinesen jetzt gar nicht „ihres eigenen Verstandes bedienen", sondern nur mit dem Verstand des Westens denken. „Das moderne China sollte sich von der zweiten Aufklärung des Westens befreien. Es gibt viele Quellen, auf die man zurückgreifen kann, zum Beispiel die eigene Aufklärungstradition in China, die Errungenschaft der Aufklärung im alten Griechenland, und die Kritik der Aufklärung von den 50er bis zu den 80er Jahren des 20. Jahrhundert", sagt Gan Yang.

Professor Wolf Lepenies vom Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin schlug in seinem Videovortrag ganz ähnliche Töne an. Schon vor Beginn der Aufklärung habe es im Westen scharfe aufklärerische Kritik gegeben, auch gegen die Aufklärung selbst. In Asien fände man hingegen keine scharfe Kritik an der Aufklärung. Er gab jedoch zu bedenken, dass auch die Kritik an der Aufklärung weder den Kolonialismus noch den Zweiten Weltkrieg verhindert hätte.

Außerdem habe die Aufklärung  „Demokratie" als einen universalen Wert verbreitet. Demokratie garantiere das Recht auf öffentliche Diskussion und Debatte. Demokratie fordert auch, dass verschiedene Gedanken frei nebeneinander bestehen können. Er sagt: „Der Westen hat lange versucht, seine Werte den anderen Kulturen aufzudrängen. Heute kann der Westen das nicht mehr machen. Noch wichtiger aber ist, dass der Westen dies nicht mehr machen darf."

Professor Zhao Tingyang vom Institut für Philosophie bei der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften  deutet „universelle Werte" als Werte, mit denen alle übereinstimmen könnten, oder von denen alle profitieren könnten. Vor diesem Hintergrund ist für ihn Demokratie gar kein universeller Wert, denn Demokratie finde weder allgemeine Zustimmung, noch könne jedermann von ihr profitieren.  „Im Gegenteil bedeutet Demokratie, dass durch Zustimmung der Mehrheit die Minderheit ihres Vorteils beraubt wird." Nach Zhao liegt die Besonderheit der Demokratie gerade darin, dass sie „gegen universelle Werte gerichtet ist."

Zhao fragt auch nach dem Widerspruch zwischen Demokratie und Vernunft. Wenn man Demokratie betreibe, könne man nach nicht zugleich der Vernunft folgen, „denn Demokratie ist die unvernünftige Verbindung privater Vorlieben mit subjektiven Wünschen. Demokratie ist keine Vernunft."

Dies hat den Widerspruch der Gäste aus Deutschland geregt. Sie erklärten den Zusammenhang zwischen individueller Vernunft und öffentlicher Vernunft. Für sie bildet die Demokratie die Vorraussetzung dafür, dass man in der Öffentlichkeit seine Meinung äußern kann. Vernunft sei ein Ergebnis öffentlicher Debatte und könne als Ausdruck allgemeiner Übereinstimmung in der Gesellschaft gelten. Daher ließe sich sagen, dass Demokratie eine Art der öffentlichen Vernunft sei.

Das Programm „Aufklärung im Dialog" wird von der deutschen Stiftung Mercator gemeinsam mit dem National Museum of China organisiert. Es besteht aus den fünf Dialogblöcken „Geschichte der Ausstellung", „Aufklärung und Kunst", „Aufklärung und ihre chinesische Geschichte", „Aufklärung und Moderne" und „Aufklärung und Wissenskulturen", die im Abstand von rund zwei Monaten stattfinden. Bislang sind bereits vier der fünf Dialoge veranstaltet worden. Der letzte Dialog findet im März nächsten Jahres statt.