Während Tausende Hochschulabsolventen vergebens nach einem Job suchen, gehen der chinesischen Fertigungsindustrie zunehmend qualifizierte Techniker und billige Arbeitskräfte aus. Der Geburtenrückgang seit Einführung der Ein-Kind-Politik in Verein mit einer seit 1999 gelockerten Hochschulzulassungspolitik haben zu einer Absolventenschwemme an den Universitäten geführt und stellen Chinas Wirtschaft vor eine ernsthafte Herausforderung.
Harte Konkurrenz: Hochschulabsolventen auf Stellensuche bei einer Jobmesse in Lanzhou, Hauptstadt der westchinesischen Provinz Gansu. Bei der Veranstaltung am 17. September waren insgesamt 20 000 Stellen ausgeschrieben.
Die Städte im Jangtse- und Perflussdelta klagen schon seit längerem über einen zunehmenden Arbeitskräftemangel, aber nun hat der Personalengpass erstmals auch den Norden des Landes erreicht. Hier hatte es zuvor immer ein ausreichendes Angebot an Arbeitskräften gegeben.
Blickt man auf die jüngsten Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur, wird schnell klar, wo die Gründe für die derzeitige Schieflage zu suchen sind: die Geburtenrate ist seit den 1990er Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Nachdem die Geburtenzahlen 1990 mit 25 Millionen einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatten, sanken sie bis 2009 auf 15,8 Millionen.
Chinesische Berufseinsteiger treten in der Regel im Alter zwischen 18 und 22 Jahren in den Arbeitsmarkt ein. Einige der jungen Chinesen, die nach 1990 geboren wurden, arbeiten also heute bereits, oder stehen kurz vor dem Berufseinstieg. Einer der Hauptgründe für den Arbeitskräftemangel, den China derzeit erlebt, ist also im Rückgang der Geburtenzahlen zu suchen. Als erste hatten zunächst die Grundschulen die Folgen des demographischen Wandels zu spüren bekommen: die Zahl der Einschulungen sowie die Gesamtzahl der Grundschüler war deutlich zurückgegangen.
Chinesische Kinder werden in der Regel mit sechs Jahren eingeschult, die Grundschulzeit beträgt sechs Jahre. Danach folgen ab dem 12. Lebensjahr drei Jahre Mittelschule, die ebenfalls zur allgemeinen Schulpflicht zählen. Nach dem Abschluss der Mittelschule haben die Absolventen dann die Wahl: Sie können die Oberschule oder eine weiterführende Fach- oder Berufsschule besuchen, einige Absolventen treten auch direkt in den Arbeitsmarkt ein.
Von 2000 bis 2009 sank die Zahl der Grundschulabsolventen von 24,19 Millionen auf 18,05 Millionen. Dieser Rückgang entspricht in etwa der rückläufigen Tendenz bei den Geburtenzahlen und hat gleichzeitig für eine entsprechend rückläufige Schülerzahl an den Mittelschulen gesorgt. 1986 lag die Zahl der Mittelschulabsolventen mit 10,57 Millionen ebenfalls recht niedrig, was damals mit den schlechten wirtschaftlichen Bedingungen, einem unvollständigen Bildungssystem und dem ganz offensichtlichen Mangel an grundlegenden Bildungseinrichtungen in den ländlichen Gebieten zusammenhing.
Bis 2004 aber war die Zahl zunächst auf 20,7 Millionen gestiegen, bevor sie 2006 mit 20,62 Millionen leicht rückläufig war; bis 2009 sackte sie dann auf 17,95 Millionen ab. In allen drei Bereichen – von den Geburtenraten über die Einschulungszahlen bis hin zur Anzahl der Mittelschüler – war als Folge der Ein-Kind-Politik ein kontinuierlicher Rückgang zu beobachten, der den derzeitigen Engpass auf dem Arbeitsmarkt begünstigt hat.
Beim Arbeitskräftemangel in Nordchina handelt es sich allerdings nicht um ein isoliertes Phänomen oder gar einen kurzfristigen Engpass. Tatsächlich steht das Problem, das auch in anderen Teilen des Landes erkennbar ist, auch in direktem Zusammenhang mit dem Mangel an Wanderarbeitern in den ostchinesischen Küstenstädten, der seit 2003 besteht.
China steht im Bereich der Personalwirtschaft heute an einem entscheidenden Wendepunkt: Es ist zu erwarten, dass die Gehälter von Industriearbeitern künftig rasch ansteigen werden, wenn der Nachzug von Arbeitskräften aus den ländlichen Regionen im Zuge der aktuellen Wirtschaftsentwicklung weiter abebbt. Und auch die Löhne der ländlichen Wanderarbeiter werden künftig ansteigen.
Verwunderlich mag zunächst scheinen, dass die Zahl der Oberstufenschüler trotz des Rückgangs an Neugeborenen und der sinkenden Zahlen von Grund- und Mittelschülern in den vergangenen zwei Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen hat.
1999 haben Chinas Hochschulen begonnen, ihre Zulassungsregelungen zu lockern, was zu einem kontinuierlichen Anstieg der Zahl der Oberstufenschüler führte. Während 1986 nur rund 2,24 Millionen Schüler die Oberstufe besuchten, stieg die Zahl bis 1999 trotz rückläufiger Geburtenzahlen auf 2,63 Millionen an, 2009 schnellte sie auf 8,24 Millionen.
Die Folge war, dass auch die Zahl der Hochschulabsolventen rapide zunahm; von rund 2,12 Millionen 2003 kletterte sie auf mehr als 6 Millionen in den vergangenen Jahren. Die Absolventenschwemme überforderte den Arbeitsmarkt und mündete in den akuten Beschäftigungsmangel, den wir heute sehen. Während nämlich die Zahl der Universitätsabgänger stark anstieg, blieb die gesellschaftliche Nachfrage nach Arbeit auf gleichem Niveau.
Auch die Zahl der Studenten an weiterführenden Fach- und Berufsschulen verzeichnet seit 1990 einen, wenn auch deutlich langsameren Anstieg. Seit 2002 zeichnete sich hier zunächst ein rückläufiger Trend ab, weil viele der Mittelschulabsolventen, die sich zuvor an einer Fach- und Berufsschule beworben hatten, dank der gelockerten Zulassungsbedingungen die Aufnahme an einer Universität anstrebten.
Aufgrund intensiver Fördermaßnahmen der Regierung ist die Zahl der Studenten an den Fach- und Berufsschulen heute wieder leicht angestiegen. Trotzdem reicht die Absolventenzahl bei weitem nicht aus, um den bestehenden Bedarf an Fachkräften zu decken. Das gilt vor allem für die verarbeitende Industrie, die händeringend nach qualifizierten Arbeitern und Technikern sucht.
Auf der anderen Seite suchen viele Hochschulabsolventen vergebens nach einer Stelle. Ein Problem, für das es wohl keine kurzfristige Lösung geben wird. China ist noch immer ein Entwicklungsland. Die Industrie wird noch lange eine zentrale Rolle für die Wirtschaftsentwicklung des Landes spielen, das gilt vor allem für die verarbeitende Industrie. Nur ein gewisser Anteil der Fach- und Berufsschulabsolventen bringt heute die nötigen Qualifikationen mit, um die offenen Stellen in der Fertigungsindustrie zu besetzen.
Vor diesem Hintergrund wird das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage im Personalbereich künftig wohl zu einem noch dringlicheren Problem heranwachsen. Der Mangel an Wanderarbeitern und qualifizierten Technikern bei einem gleichzeitigen Überangebot an Hochschulabsolventen stellt die chinesische Wirtschaft vor eine ernsthafte Herausforderung.
Die Unternehmen sollten auf Arbeitskräftemangel gefasst sein. Sie müssen ihre Methoden zur Anwerbung von Personal verfeinern. Auch die Löhne gilt es schrittweise anzuheben und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Der Aufbau harmonischer Arbeitsverhältnisse wird es den Unternehmen erleichtern, sich den Bedürfnissen der veränderten Arbeitsmarktsituation anzupassen.
Liu Erduo ist stellvertretender Leiter des Instituts für Arbeit und Personalwirtschaft der Volksuniversität (Renmin Daxue) in Beijing.
(Quelle: Xinhua)
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