09-08-2011
Lebensgeschichten
Oliver Radtke: Ich genieße es sehr, in China zu sein in einer Zeit, in der sich unglaublich viel tut!
von Xu Bei

Seit elf Jahren erlebt ein deutscher Sinologe Chinas Wandel

 

 

Am 16. Juli sind acht deutsche Journalisten an der Tsinghua-Universität eingetroffen, um dort ihren dreimonatigen Chinaaufenthalt zu beginnen. Damit wird die vierte Runde des Journalisten-Austauschprogramms „Medienbotschafter China – Deutschland " eingeläutet. Auf dem Eröffnungsseminar an der Tsinghua-Universität hat die Reporterin der Beijing Rundschau Oliver Radtke, den neuen Projektleiter für das Austauschprogramm der Robert Bosch Stiftung, getroffen.

 

Interesse an China beginnt mit TCM

Seinen ersten Kontakt zu China bekam Oliver Radtke über seinen Großvater. Als Ingenieur war Radtkes Großvater in den 70er Jahren in China: „Er hat viele Geschichten aus dem maoistischen China und der Zeit des Übergangs zur Reform- und Öffnungspolitik mitgebracht. Das war sehr interessant.".

Ab der 7. Klasse im Gymnasium hat Radtke angefangen, Chinesisch zu lernen. Er sagt: „Das war ein sehr spannendes und lustiges Erlebnis. Aber ich habe alles vergessen, nachdem ich Abitur gemacht hatte."

Die echte und langanhaltende Motivation, Chinesisch zu lernen, rührt her von Radtkes Interesse an Traditioneller Chinesischer Medizin. „Ich habe mich für TCM interessiert und angefangen, in einem TCM-Krankenhaus als Krankenpfleger zu arbeiten. Da habe ich gemerkt, dass ich Chinesisch lernen und Sinologie studieren sollte, um noch mehr über TCM zu erfahren. Jenseits des bloßen Spracherwerbs gibt es aber auch noch die Kultur Chinas, die Geschichte, die Philosophie, die Politik, also sehr viele Bereiche, die mich sehr fasziniert haben. Deswegen bin ich dabeigeblieben", so Radtke.

Jedes Jahr ist er nach China gefahren. In den vergangen elf Jahren hat er als Lehrer, Journalist und Orchestermanager in China gearbeitet. „Ich versuchte, in allen möglichen Bereichen zu arbeiten, um herauszufinden, was geeignet für mich ist, und zugleich viel über die chinesische Gesellschaft lernen zu können."

 

Ein Online-Museum für „Chinglish"

Aus seinem Interesse an der chinesischen Gesellschaft der Gegenwart und seiner Begeisterung für die chinesische Sprache ist eine Website geboren, die er im Jahr 2005 als Online-Museum für „Chinglish" etablierte. Bislang hat er zwei Bücher über „Chinglish" publiziert, auch seine Doktorarbeit dreht sich um „Chinglish".

Im Sommer 2000 begann Oliver Radtke an der Fremdsprachenhochschule Shanghai im Rahmen seines Sinologiestudiums sein Auslandsjahr. Eines Tages beim Ausstieg aus einem Taxi in Shanghai fiel sein Blick auf einen kleinen Aufkleber an der Beifahrertür des Taxis, der ihm Folgendes nüchtern nahe legte: "Don't forget to carry your thing". „Meine Leidenschaft für Chinglish war geboren", erinnert er sich.

Nachdem Radtke einige Monate in Shanghai gelebt hatte, entdeckte er immer mehr Schilder mit Inschriften auf „Chinglish": in Kaufhäusern, Parks, und öffentlichen Gebäude. Der eifrig Chinesisch lernende Radtke konnte sich meist leicht einen Reim darauf machen, was die Schilder mitteilen wollten, aber der unorthodoxe Umgang mit der Kunst des Übersetzens hat ihn so fasziniert, dass er schließlich sein Online-Museum eröffnete, in dem mittlerweile Hunderte dieser Schilder zu besichtigen sind.

Anfangs konnten viele chinesische Internet-User ihn nicht verstehen. „Sie fanden, mein Blog über Chinglish macht sarkastische Bemerkungen auf Kosten der Chinesen", sagt Radtke. In seinen Augen aber ist die Wortschöpfung aus "Chinese" und "English" nichts als die Beschreibung einer Nebenwirkung der Globalisierung: „Sprache trifft auf Sprache und ergibt etwas völlig Neues. Für die meisten sprachgewandten Chinesen gilt Chinglish eher als peinliches Unvermögen ihrer Landsleute, für mich hingegen sind die Schilder prachtvolle Unikate der chinesischen Übersetzungspraxis."

Mit den zunehmenden Berichterstattungen über Radtkes Blog aber begegnen ihm immer mehr chinesische Internetnutzer mit Verständnis. „Viele chinesische Internet-User haben mir sogar schon Fotos von Chinglish-Schildern geschickt, um zu meinem Chinglish-Museum beitragen zu können", sagt er.

 

Neue Karriere bei der Robert Bosch Stiftung

Radtke meint, im Grund genommen gebe es zwei Arten von Sinologen in Deutschland: „Die eine ist die, die zu Hause sitzt und Bambustexte übersetzt. Sie ist sehr klassisch orientiert und hat mit dem aktuellen China sehr wenig zu tun. Die andere Sorte Sinologe, zu der ich mich rechne, ist die, die nach China kommt, die es mag, sich hier an der chinesischen Gesellschaft zu reiben, die auch gerne hier schwitzt, die auf dem Campus sitzt und viel arbeitet und sich mit dem China der Gegenwart auseinander setzt. Ich genieße es sehr, in einer Situation in China zu sein, in der sich unglaublich viel tut!"

Aus diesem Grund hat er Anfang 2011 seinen neuen Job als Projektleiter bei der Robert Bosch Stiftung angetreten. Er ist verantwortlich für alle Programme, die mit China zu tun haben. Und das Austauschprogramm „Medienbotschafter- China und Deutschland" ist einer ihrer Schwerpunkte.

„Ich denke, dass ich mit meinem elfjährigen Erfahrungshintergrund als Sinologiestudent und jemand, der in China gearbeitet hat, in dieser Position doch einiges für den deutsch-chinesischen Austausch, zum Beispiel im Bereich der Medien, anregen kann", sagt er.

Als ehemaliger Fernsehreporter für einen chinesischsprachigen Nachrichtenkanal aus Singapur hat Radtke auch seine eigene Meinung über den Sinn des Journalistenaustausches zwischen China und Deutschland. Robert Bosch habe Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika studiert, gelebt und gearbeitet. Und ihm war damals schon klar, dass man in einer globalisierten Welt leben wird. Deswegen ist Völkerverständigung stets ein zentrales Anliegen, auch heute noch.

„Man kann sagen, dass sich die deutsche und die chinesische Kultur sehr voneinander unterscheiden. Aber was Journalisten in Deutschland und China tun, ist im Grunde sehr ähnlich. Beide schreiben, beide berichten kritisch, versuchen, den Dingen auf den Grund zu gehen, zu recherchieren und Missstände ans Licht zu bringen. Ich glaube, der Beruf des Journalisten folgt auf der ganzen Welt ähnlichen Grundsätzen und hat die gleichen Maßstäbe und Wertvorstellungen. Auf dieser Grundlage gemeinsamer Werte kann Verständigung einsetzen", so Radtke.