27-06-2011
Meinung
Schöpferische Anwendung und Weiterentwicklung des Marxismus - zum 90. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas -
von Rolf Berthold*

 

Nach der drastischen Umwälzung in Europa in den 1990er Jahren steht die komplizierte Frage, wie kann der Sozialismus so gestaltet werden, dass er seine historische Überlegenheit nachhaltig unter Beweis stellt. Die Konsequenzen, die die KPCh gezogen hat, wurden verallgemeinert: die Kommunistische Partei muss der Vertreter der Entwicklung fortgeschrittener gesellschaftlicher Produktivkräfte Chinas, der Vertreter seiner fortschrittlichen Kultur und der Vertreter der grundlegenden Interessen der überwiegenden Mehrheit des chinesischen Volkes sein. Es gilt, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und ein wissenschaftliches Entwicklungskonzept in die Praxis umzusetzen. Die reichen Erkenntnisse und Erfahrungen der KPCh auf dem sozialistischen Entwicklungsweg führten zur Herausbildung eines Systems von gesellschaftlichen Strukturen und politischen Leitlinien der Anfangsetappe des Sozialismus und des Sozialismus chinesischer Prägung. Der weltweit beachtete Aufschwung der VR China ist ihr Ergebnis. In vielen Ländern findet dieser Weg zunehmende Aufmerksamkeit.

Marx und Engels konnten die Phase der Machtergreifung des Proletariats und insbesondere den konkreten Weg der Schaffung sozialistischer gesellschaftlicher Verhältnisse nicht im Voraus konkret einschätzen. Die KPCh ist heute dabei, Strategien für eine gesellschaftliche Entwicklung zu erarbeiten und in die Tat umzusetzen, die den neuen Bedingungen entsprechen und auf die Verhinderung der Zerstörung der Zivilisation gerichtet sind. Das ist die Weiterentwicklung des Marxismus, die seinem Wesen gerecht wird.

Einer der grundlegenden Ausgangspunkte der Politik der KPCh ist die bereits von Marx und Engels erkannte Gesetzmäßigkeit, dass die Bourgeoisie erst dann ihre politische Herrschaft errichten kann, wenn sich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse im wesentlichen herausgebildet haben, dass aber die sozialistischen Produktionsverhältnisse erst nach der Machtübernahme der Arbeiterklassen und der mit ihr verbündeten Klassen und Schichten geschaffen werden können. Eine sozialistische Ordnung bedeutet noch keineswegs eine sozialistische Gesellschaft, einen vollendeten Sozialismus. Die KPCh hat mit der 1978 eingeleiteten Politik betont, dass sich China in der Anfangsphase des Sozialismus befindet. In dieser Etappe ist zwar eine grundsätzliche Veränderung der Eigentumsstruktur erforderlich, die entscheidenden Bereiche der Wirtschaft müssen in der Hand des Staates sein, aber eine komplette Vergesellschaftung der Produktionsmittel ist weder realisierbar, noch für die Entwicklung der Produktivkräfte zweckmäßig. Die Dominanz des gesellschaftlichen Eigentums bei gleichzeitiger Entwicklung verschiedener Eigentumsformen ist die grundlegende ökonomische Ordnung in der Anfangsphase des Sozialismus in China. Das ist eine wichtige theoretische Erkenntnis und in der Praxis realisierte Position. Der sozialistische Charakter dieser Ordnung wird durch das Festhalten an den vier Grundprinzipien (Festhalten am sozialistischen Weg, an der demokratischen Diktatur, an der Führung durch die KP und am Marxismus-Leninismus und den Mao Zedong-Ideen), die Sicherung des staatlichen Eigentums in den strategischen Bereichen, die Sicherung des gesellschaftlichen Eigentums an Grund und Boden und die makroökonomische Kontrolle und Steuerung durch den Staat gewährleistet. Die Existenz individueller und privater Eigentumsformen dient in der Anfangsetappe des Sozialismus unter den Bedingungen der sozialistischen politischen Macht und der Dominanz des gesellschaftlichen Eigentums der Entwicklung der sozialistischen Ökonomie.

Zu den schwierigsten, heute noch unzureichend beantworteten Fragen gehört, warum in der zerstörten UdSSR und den ehemals sozialistischen Ländern Europas im Zuge der drastischen Umwälzung das Volkseigentum fast ohne Widerstand der Eigentümer wieder in Privathand fallen konnte, nicht zuletzt an das etablierte internationale Großkapital. Eine Erklärung besteht darin, dass die stark zentralisierte Verfügungsgewalt über das Volkseigentum in diesen Staaten bei Beseitigung der Führung plötzlich zur Herrenlosigkeit dieses Eigentums führte. Die KPCh hat daraus offensichtlich prinzipielle Schlussfolgerungen gezogen und neue Formen des Volkseigentums gefunden, insbesondere die Organisation von Unternehmen mit starkem Mitspracherecht der Werktätigen und ein Aktiensystem, das schon Marx und Engels als Anfangsform der Vergesellschaftung des Kapitals, eine Art Übergangsform zu sozialistischen Eigentumsformen, bezeichneten. In der Praxis befinden sich die entscheidenden Teile der Aktien in der Hand des Staates, staatlicher Organe oder kommunaler Institutionen und anderer Formen des gesellschaftlichen Eigentums.

Die Eigentumsfrage, politische Strukturen und die politische Macht werden von der KPCh als Schlüsselfragen behandelt. Hier liegt die Scheidelinie zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Das moderne bürgerliche System ist gekennzeichnet von einem parlamentarischen Mehrparteiensystem und dem System der Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive und Judikative). Da die bürgerlichen Parteien sich nach diesem System abwechseln oder kontinuierlich die Regierungsgewalt ausüben, die wirtschaftlichen Machtverhältnisse dabei aber nicht angetastet werden und bei Versagen der Exekutive die Gerichte entscheiden, ist ein Kreislauf der kapitalistischen Herrschaft gesichert, eine gesellschaftliche Veränderung ist so nicht möglich. Die politische Struktur des sozialistischen Staates der VR China ist charakterisiert durch die führende Rolle der Partei, die Zusammenarbeit mehrerer Parteien unter Führung der KPCh, die staatliche Leitung und Repräsentation durch den Nationalen Volkskongress, der die Einhaltung der Verfassung kontrolliert, die Gesetze beschließt und dabei eng mit der Politischen Konsultativkonferenz zusammenarbeitet, durch den Staatsrat, der als Regierung die Funktion der Exekutive ausfüllt, sich aber im Unterschied zur früheren Praxis nicht mit allen konkreten wirtschaftlichen Fragen befasst, sondern sich auf die strategischen Fragen der Entwicklung konzentriert. Der Entwicklung eines sozialistischen Rechtssystems wurde in der Periode nach 1978 von der KPCh besondere Aufmerksamkeit gewidmet.

Angesichts der Größe Chinas, der Vielzahl der Nationalitäten und Vielfalt der Religionen sowie der sehr unterschiedlichen Situation und Entwicklungsstadien der verschiedenen Landesteile wurden Maßnahmen erarbeitet und umgesetzt, die diesen unterschiedlichen Bedingungen entsprechen und gleichzeitig die Einheit und Geschlossenheit sowie die gleichmäßige Entwicklung der unterschiedlichen Landesteile gewährleisten. Viele dieser Maßnahmen sind zweifellos für China spezifisch, aber sie weisen auch Merkmale von allgemeiner Bedeutung auf. Es sei hier nur erwähnt, dass im Unterschied zur sowjetischen Verfassung von 1936 die Verfassung der VR China, die 1954 beschlossen wurde und in diesem Punkt bis heute gültig ist, die Autonomen Gebiete der VR China eine hohe Gebietsautonomie, aber nicht das Recht der staatlichen Lostrennung haben, wie es den Sowjetrepubliken zugesprochen war. Der Austritt der Russischen Föderation aus der UdSSR, initiiert von Jelzin, führte unmittelbar zur Zerstörung der Sowjetunion. Eine von westlichen Politikern in den letzten Jahren gewünschte und angestrebte Loslösung des Autonomen Gebiets Xinjiang der Uigurischen Nationalität von der VR China mit ihren 56 verschiedenen Nationalitäten hätte, um nur einen Aspekt zu nennen, zum Chaos in diesem riesigen Gebiet geführt. Ergänzend sei nur erwähnt: einer der Religionen in China das Vorrecht gegenüber allen anderen einzuräumen, würde ebenfalls zu gesellschaftlichen Komplikationen führen.

Zu den sehr spezifischen Problemen Chinas, die theoretisch und praktisch zu lösen waren, gehört die Beendigung der ausländischen Herrschaft über die chinesischen Territorien Hongkong und Macao. Die Situation in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts bot Gelegenheit, diese, aus dem kaiserlichen China überkommene historische Schmach, zu tilgen. Mit der Rückführung von Hongkong und Macao in das Staatsgebiet der Volksrepublik China auf der Basis „ein Land, zwei Systeme" wurde diese bedeutende politische Aktion auf friedlichem Weg unter voller Wahrung der Souveränität der VR China und unter Einbeziehung beider Territorien in die sich entwickelnden internationalen Wirtschaftsbeziehungen der VR China gelöst. Es handelt sich um eine spezifische Frage der Politik der KPCh, aber es ist ein Lehrbeispiel für die Lösung komplizierter historisch überlieferter Probleme zwischen den Staaten auf friedliche Weise.

Zu den wichtigsten Elementen der Strategie der KPCh gehört die Position, an der führenden Rolle der Kommunistischen Partei festzuhalten. Das in der VR China entwickelte System der Existenz mehrerer Parteien unter Führung der KP Chinas ist eine schöpferische Weiterentwicklung der marxistischen Position über die führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse. Diese Erkenntnis berücksichtigt die konkrete Praxis der chinesischen Entwicklung von einem halbfeudalen, halbkolonialen Land mit schwach entwickelten kapitalistischen Produktionsverhältnissen zum Sozialismus. In einer solchen Periode können gesellschaftliche Schichten und Gruppen, die sich für die sozialistische Gesellschaftsordnung aussprechen, positive Beiträge zur gesellschaftlichen Entwicklung leisten, wenn sie unter kluger und zielklarer Anleitung einer erfahrenen kommunistischen Partei agieren. Es handelt sich dabei nicht um ein bürgerliches Mehrparteiensystem, sondern um eine wichtige Form der Ausgestaltung sozialistischer gesellschaftlicher Verhältnisse. Hier ist auch die Frage zu stellen, ob es sich bei der berechtigten und erforderlichen Existenz mehrere Parteien in der VR China um eine Besonderheit des Sozialismus chinesischer Prägung handelt. Wenn die Auffassung stimmt, dass es zumindest in der Regel nicht wahrscheinlich ist, eine sozialistische Umwandlung einer kapitalistischen Gesellschaft auf direktem Weg zu erreichen, sind derartige Formen durchaus erforderlich.

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