20-05-2011
Porträt
Gerd Koenen: China ist in der Geschichte der kommunistischen Bewegungen ein ganz eigener Fall
von Zeng Wenhui

Gerd Koenen, Historiker und Autor

Gerd Koenen ist Historiker und Autor einer Anzahl von Büchern zu unterschiedlichen Themen, insbesondere über die Geschichte des internationalen Kommunismus, Osteuropas und der früheren Sowjetunion, über die deutsch-russischen Beziehungen im 20. Jahrhundert, über Kuba und die lateinamerikanische Guerilla-Bewegung, sowie über die westliche Neue Linke um 1968 und den deutschen Linksterrorismus der 1970er und 1980er Jahre.

 

Beijing Rundschau: Das Kapital von Karl Marx spielte eine ganz wichtige Rolle für die Gründung kommunistischer Parteien weltweit. Der erste Band von Marx´ Studie ist bereits 1867 erschienen, welche Bedeutung hat "Das Kapital" heute?

 

Gerd Koenen: Marx hat von sich selber gesagt: „Alles was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin." Das heißt, Marx war ein relativ offener Denker. Er hat kein fixes System entworfen. Das hat man erst nach seinem Tod aus seinen Schriften gemacht. Ich denke, seine Schriften kann man auch heute mit großem Gewinn lesen, gerade auch die frühen Schriften, die sich nicht nur auf die Produktion beziehen, sondern eher kulturkritisch sind. Sie enthalten das Thema "Entfremdung", das auch heute noch von Bedeutung ist.

Aber Marx war ein Denker des 19. Jahrhunderts. Er konnte nur in seiner Zeit denken und analysieren, etwas anderes wollte er auch gar nicht. Er hat sich immer als Genosse seiner Zeit gesehen. Wir sind jetzt Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts. Wir müssen selber unseren Kopf anstrengen, unser kritisches Vermögen entwickeln, um mit der Gesellschaft, in der wir jetzt leben, zurecht zu kommen. Man wird bei Marx nicht die Lösung finden, aber man kann sehr viele Anregungen für eine eigene Art der kritischen Betrachtung unserer heutigen Gesellschaft finden.

 

 

Dieses Jahr ist das 90-jährige Jubiläum der Kommunistischen Partei Chinas. Haben Sie sich mit der Geschichte der KP Chinas auseinander gesetzt? Welche Phase in der Geschichte hat Sie am meisten beeindruckt?

 

Ich beschäftige mich im Moment ganz schwerpunktmäßig mit einer vergleichenden Geschichte der kommunistischen Bewegungen im 20.Jahrhundert, hauptsächlich in der Sowjetunion und Osteuropa. Aber natürlich sind China und die asiatischen Länder ein ganz eigener Fall und das andere große Kapitel in dieser Geschichte.

Positiv beeindruckt haben mich zunächst die ursprünglichen Motive zur Gründung dieser Partei. In China gab es bis dahin ja weder eine sozialistische Bewegung noch eine Arbeiterbewegung. Diese entwickelte sich erst in den 20er Jahren, hat großartige Gestalten hervorgebracht, blieb allerdings immer sehr stark an ihre antiimperialistischen Ausgangsmotive gebunden. In den Jahren des antijapanischen Widerstandskriegs hat ihr das dann umso Kraft verliehen. Eher negativ beeindrucken mich die ungeheuren Schwankungen, in denen sich die Geschichte dieser Partei vollzogen hat, und die Opfer, die das gekostet hat. Wiederum positiv hat mich beeindruckt, wie nach der Hyperideologisierung in der Phase der Kulturrevolution Deng Xiaoping mit vier oder fünf knappen Sätzen, also mit einem Minimum an ideologischem Aufwand, einen weitgehenden politischen Wandel eingeleitet hat, jedenfalls einen Wechsel in der sozialökonomischen Realität des Landes.

 

Welche Ratschläge haben Sie für die KP Chinas?

 Neben den Fragen der Geschichte geht es ja vor allem um die der weiteren Entwicklung Chinas. Es gibt für China - genauso wie für jedes andere Land - keinen Weg zurück in die einfachen Verhältnisse von früher, die ja auch keine Idylle waren. Die Gründe des Zusammenbruchs der Sowjetunion Ende der 80er Jahre sind gewesen, dass nicht nur die Wirtschaft nicht gut funktioniert hat. Sondern letztlich war es überhaupt nicht mehr möglich, von einem Zentrum im Kreml aus dieses immer komplexer werdende Land zu regieren, zu steuern. Das Zentrum wusste nicht mehr genau, was eigentlich im Land passierte, wie die Probleme wirklich beschaffen waren. Heute stellt sich natürlich die Frage, ob die chinesische Gesellschaft über genügend autonome Organe und kritische Instrumente verfügt, um mit der Vielzahl ihrer Probleme fertig zu werden. Um sie überhaupt als Probleme zu formulieren, bedarf es aber einer geistigen Freiheit, einer demokratischen Bewegungsfreiheit all derjenigen, die sich engagieren wollen.