01-02-2011
Ihr Auftritt, Herr Hase!
Ihr Auftritt, Herr Hase!
Von Matthias Mersch

Das Jahr des Tigers ist beendet. Bühne frei für den Hasen! Auf den ersten Blick könnte der Kontrast nicht größer sein: hier der harmlose Hase, dort der mächtige und entsprechend gefürchtete Tiger. Aber anders als in Europa, wo es den Angsthasen", den "Hasenfuß" und das Hasenherz" gibt, um über furchtsame Menschen spöttische Reden zu führen, wird in China der Hase nicht als mutlos verunglimpft: 兔子回头,凶似虎 Tùzi huítóu, xiōng sì hŭ, "ein Hase wird böse wie ein Tiger", nämlich dann, wenn er sich in verzweifelter Lage befindet.

So ist die Schwäche des Hasen eine bedauerliche Tatsache, die er durch Klugheit und Entschlossenheit ausgleichen kann. So etwa im Sprichwort:  兔子不吃窝边草Tùzi bù chī wō biān căo, „ein Hase frisst nie das Gras, das sich um seinen Bau herum befindet". 

Damit ist gemeint, dass ein Verbrecher in der Nähe seines Unterschlupfs keine Straftaten begeht, damit er sich nicht der Rückzugsmöglichkeiten beraubt. 

Im Deutschen kann als Entsprechung „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus" gelten, was den Zusammenhalt meint, den Gauner unter allen Umständen wahren. Sie demonstrieren einen Korpsgeist, dem gegenüber ein Außenstehender keine Chance hat, seine Interessen durchzusetzen, mögen sie noch so berechtigt sein.  

In der vielleicht bekanntesten Erzählung der chinesischen Tradition ist der Hase nicht der Held, sondern nur das Mittel zur Darstellung rein menschlicher Einfalt, die sich in diesem Sprichwort verdichtet: 守株待兔 Shŏuzhū dài tù, neben dem Baumstumpf auf einen Hasen warten". Was hat es damit auf sich?  

Ein Bauer sieht zufällig, wie ein Hasen gegen einen Baumstumpf rennt und sich dabei das Genick bricht. Er nimmt den toten Hasen nach Hause mit und bereitet sich daraus eine leckere Mahlzeit. Fasziniert von dieser ungeahnt bequemen Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, gibt er den Landbau auf und wartet von nun an jeden Tag neben dem Baumstumpf darauf, dass sich sein Glück wiederholt, was natürlich eine trügerische Hoffnung ist.   

Ebenfalls nur am Rande mit dem Hasen zu tun hat die Wendung:  狡兔三窟 Jiăo tù sān kū,

"ein schlauer Hase hat drei Bauten". Sie spielt auf eine Erzählung aus der Zeit der Drei Reiche (220-280 n. Chr.) an. Der Berater eines Ministers sorgt dafür, dass sich Einfluss, Macht und persönliche Sicherheit seines Herren auf drei Säulen stützt, die voneinander unabhängig sind. Das Deutsche kennt dafür nur die viel banalere Wendung: „Doppelt gemoppelt hält besser!" 

Die in meinen Augen schönste Geschichte über den Hasen ist der buddhistischen Tradition verpflichtet. Sie steht in gewisser Konkurrenz zu der daoistischen Überlieferung über den Hasen, der im Mond die Pillen der Unsterblichkeit dreht. 

In den Tagen der irdischen Existenz des Buddha gab es eine Waldlichtung, auf der sich Asketen zur Meditation trafen. Die Bedingungen auf dieser Lichtung ähnelten einem Paradies auf Erden, es herrschte eine heilige Atmosphäre, die auch auf die Tiere des Ortes abstrahlte. Aufgrund seiner Harmlosigkeit erwählten die Tiere den Hasen zum Exegeten buddhistischer Schriften. Eine Lehrtätigkeit ist zwar sehr ehrenhaft, aber meistens nicht mit dem Erwerb eines großen Vermögens verbunden, weshalb der Hase in ziemlicher Armut lebte. Eines Abends kam der Buddha höchst persönlich mit einigen Schülern auf die Waldlichtung, um seine Lehrreden zu halten. Die ganze Nacht verbrachte er im Gespräch, bis am nächsten Mittag die Sonne hoch am Himmel stand. Buddha nahm die Gestalt eines Brahmanen an und rief erschöpft und verzweifelt aus: „O weh, meine Gefährten sind fort und ich habe mich verirrt! Ich bin hungrig und durstig! Habt Mitleid mit mir und helft!" Die Tiere des Waldes hörten diesen Ruf der Verzweiflung und beeilten sich, ihre Hilfe und Gastfreundschaft anzubieten. Der Otter brachte Fisch, der Schakal seine Beute, ein jeder trug herbei, was er entbehren konnte. Als aber die Reihe am Hasen war, stand dieser wegen seiner Armut mit leeren Händen da. „Meister", sagte er, „ich, der ich im Wald aufgewachsen bin, gemästet mit Gras und Kräutern, habe nichts anzubieten außer meinem eigenen Körper. Gewähre uns die Gunst deiner Rast in unserer Mitte und erlaube mir, dich mit meinem eigenen Fleisch zu nähren!" Als er zu Ende gesprochen hatte, gewahrte er eines Haufens magischer Holzkohle, die rauchlos glühte. Er wollte gerade auf den Scheiterhaufen springen, als er noch einmal innehielt, um sich die Flöhe aus dem Fell zu kämmen: „Meinen Körper mag ich dem Erleuchteten opfern", flüsterte er, „aber ich habe nicht das Recht, Euch das Leben zu nehmen." Nachdem die Parasiten in Sicherheit gebracht waren, stürzte sich der Hase auf den Scheiterhaufen.  

Der Buddha – wieder die eigene Gestalt annehmend – pries die Vortrefflichkeit des Opfers und sprach: „Wer das Selbst vergisst, und sei es die geringste Kreatur auf Erden, wird in den Ozean des Ewigen Friedens eingehen." Zur Belohnung des Hasen entschied Buddha, dass der Mond in Zukunft sein Bild tragen sollte, als ein leuchtendes Vorbild in aller Ewigkeit. Und dies mag der Grund dafür sein, dass der Hase in China am Laternenfest (15. Tag des 1. Monats nach dem traditionellen chinesischen Kalender, es bildet den Abschluss der Neujahrsfeierlichkeiten nach dem Frühlingsfest) und beim Mondfest (15. Tag des 8. Monats nach dem traditionellen chinesischen Kalender) gerne in Gestalt eines Lampions auftaucht.