15-12-2010
Sonderberichterstattung
Arbeitsbedingungen in China: Streiks fördern Umdenken an der Werkbank der Welt

Wenn Liu Liping diesen Monat ihren Lohn empfängt, ist alles anders als zuvor. Von nun an wird die 24-jährige Fließbandarbeiterin bei Foxconn – der Welt größter Fertigungsbetrieb für elektronische Bauteile und Computerausstattung – im Monat 2000 RMB (224 EUR) verdienen. Damit ist ihr Grundgehalt mehr als doppelt so hoch als noch vor einem halben Jahr. 

Diese beträchtliche Lohnerhöhung versinnbildlicht einen Wandel im chinesischen Wirtschaftsgefüge, der auch die globale Wertschöpfungskette betrifft. Nach einer Streikwelle und einer Reihe von Arbeitskonflikten im Frühjahr und Sommer 2010 ist das bisherige Entwicklungsmodell auf Basis von Billigarbeitern an seine Grenze gestoßen.   

Liu Shijin, Volkswirt einer  der chinesischen Regierung, gab vergangene Woche zu verstehen, dass Chinas Wirtschaft in den nächsten drei bis fünf Jahren in ein gemächlicheres Tempo fallen wird, nicht zuletzt wegen steigender Arbeitskosten. 

Eine Selbstmordserie bei Foxconn, mit 937 000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber des Landes im Bereich der Fertigungsindustrie, war dieses Jahr das erste Anzeichen dafür, dass nicht alles zum Besten bestellt ist an der Werkbank der Welt, wie die chinesische Wirtschaft oft genannt wird. Auch wenn die Selbstmorde der Arbeiter nicht in unmittelbare Verbindung mit den Arbeitsbedingungen in der Fabrik von Foxconn in Shenzhen gebracht werden konnten, führte das Unternehmen in dem Industriekomplex grundlegende Neuerungen ein. So wurden die Löhne für langjährige Mitarbeiter zunächst um 33 Prozent und dann um weitere 66 Prozent angehoben – die Grundlage für die Lohnsteigerung von Frau Liu. 

Foxconn beschleunigte zudem die Verlegung seiner Produktion von Shenzhen im Südosten Chinas nahe Hongkong an Niedriglohnstandorte in Zentralchina. Auch kommt man immer mehr von der Praxis ab, Fabrikstädte zu unterhalten, in denen für alle grundlegenden Bedürfnisse der Arbeiter und Angestellten gesorgt wird, von der Unterbringung in Wohnheimen bis zur Verpflegung in Kantinen und dem Einkauf in Supermärkten.  Guo Tai-Ming, Gründer und Vorstandschef von Foxconn, sagte Anfang Juni vor Investoren in Taiwan: „Die Struktur der Fertigungsindustrie muss sich ändern." 

Eine Reihe von Arbeitsniederlegungen im Mai und Juni vor allem bei dem japanischen Automobilhersteller Honda, wo die Belegschaft Lohnerhöhungen erwirken konnte, erinnerten daran, dass die Arbeiter nicht bereit sind, Arbeitsbedingungen und Hungerlöhne zu akzeptieren. Sowohl die Regierung wie auch die Investoren haben das schon lange kommen sehen. Vor zwei Jahren wurde ein neues Arbeitsgesetz verabschiedet, darin werden die Arbeitgeber zur Übernahme einer größeren Verantwortung hinsichtlich der sozialen Absicherung der Arbeitnehmer verpflichtet.    

Die Regierung von Guangdong, der Provinz mit der höchsten Konzentration von Betrieben der exportorientierten Fertigungsbranche, versucht seit Jahren, die Struktur der lokalen Industrie zu optimieren: weg von der Herstellung von Billigprodukten in umweltverschmutzenden Fabriken, hin zu hochwertigen Waren aus energiesparender Produktion.    

Ausländische Firmen stellen sich schon seit Jahren darauf ein. Foxconn und in dessen Gefolge die meist im Besitz von Taiwanern befindlichen Betriebe der Elektronikindustrie, die im Auftrag von Weltmarken produzieren, haben damit begonnen, ihre Fertigungsstätten in anderen Provinzen zu errichten.  

Diesem Trend stehen einflussreiche Faktoren entgegen. Yang Lixiong, Arbeitsexperte an der Renmin Universität in Beijing, sagt: "Der Erfolg der lokalen Funktionäre misst sich in Wachstumszahlen und darin, ob sie in der Lage sind, gesellschaftliche Stabilität aufrechtzuerhalten. Das regt sie zum Erhalt einer großen Zahl von Arbeitsplätzen an, für die nur geringe Qualifikationen erforderlich sind." Da dies auch für die Regierungen von Provinzen des Binnenlandes gilt, die in der Vergangenheit weniger Investitionen aus dem Ausland akquirieren konnten, haben Kostensteigerungen und Unruhen unter der Arbeiterschaft in diesem Jahr eine neue Runde des Wettbewerbs unter Lokalregierungen um Investitionsprojekte ausgelöst.

Vertreter von Lokalregierungen in Henan, Chinas bevölkerungsreichster Provinz, überbieten sich vor dem Hintergrund der Umzugspläne von Foxconn gegenseitig in ihrem Bemühen um die Ansiedlung großer Industriekomplexe. In Henan sind die Mindestlöhne im Schnitt um ein Drittel niedriger als in Shenzhen.  

Dennoch steigen die Arbeitskosten stetig. Die Streiks mögen zwar nichts an der Weigerung der chinesischen Regierung geändert haben, unabhängige Gewerkschaften und andere Formen gesetzlich garantierter Arbeiterrechte zuzulassen, aber zumindest die Inhaber ausländischer Firmen sind sich darüber im Klaren, dass sie es mit einer selbstbewussteren Arbeiterschaft zu tun haben.  Beobachter sagen voraus, dass es zu deutlich höheren Löhnen und Flächentarifverträgen kommen wird.  

"Wir gehen davon aus, dass China zumindest kurzfristig seine Wettbewerbsfähigkeit nicht einbüssen wird, sondern weiterhin einer der Hauptstandorte der Fertigungsindustrie bleibt, da es über ein sehr entwickeltes Produktionssystem verfügt", heißt es in einer Analyse der Credit Suisse. „Es ist jedoch möglich, dass der Anteil Chinas am Umfang der Einfuhren in die Industrieländer nicht mehr ansteigen wird."  

In China wird der Druck bereits durch alle Branchen hinweg spürbar: Neusoft, der größte Vertragshersteller für die IT-Industrie, sieht eine jährliche Steigerung der Löhne zwischen 15 und 20 Prozent. „Wir haben darauf mit einer Veränderung unseres Geschäftsmodells reagiert", sagt Geschäftsführer Liu Jiren. "Wir versuchen im Qualitätssektor unterzukommen, anstatt immer nur auf die Stückzahlen zu blicken." 

Frau Liu kann nun doppelt so viel Geld auf die hohe Kante legen wie zuvor und will nun ein Jahr früher heiraten als geplant. Für die Käufer der Produkte, an deren Herstellung sie mitwirkt, sind die Auswirkungen kaum spürbar, denn der Anteil der Arbeitskosten am Endpreis von iPhones, Spielkonsolen und PCs ist gering. Nach Angaben der Credit Suisse schlugen im Jahr 2009 Lohnkosten in der Elektronikindustrie gerade einmal mit 3,5 Prozent des Umsatzes zu Buche.