Am 27. Juli ging im kanadischen Toronto der vierte G20-Gipfel zu Ende. In dem von den Teilnehmern verabschiedeten Schlusskommuniqué heißt es, dass alle Staaten weitere Fördermaßnahmen ergreifen sollten, damit ein stabiles Wirtschaftswachstum gewährleistet werden könne. Außerdem wird die Reform des internationalen Finanzsystems gefordert. In der Deklaration wird betont, gegenwärtige Konjunkturprogramme kontinuierlich fortzuführen. Das Defizit von Staatshaushalten müsse reduziert und die finanzielle Stabilität der Länder gewahrt werden. Zudem müssten mehr Arbeitsplätze geschaffen und die Doha-Verhandlungsrunde zum Abschluss gebracht werden.
Allerdings streiten Amerika und Europa über den richtigen Weg aus der Krise. Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung verfolgt man die Position Chinas mit großer Aufmerksamkeit. Nach dem Ende des G20-Gipfels hat die Beijing Rundschau Di Dongsheng interviewt, Dozent am Institut für Internationale Studien der Volksuniversität.
Beijing Rundschau: Bedeutet das Motto des Gipfeltreffens „Recovery and New Beginnings", dass die weltweite Wirtschaftskrise vorbei ist?
Di Dongsheng: Nach meiner Ansicht spiegelt das Motto des Gipfels die Differenzen zwischen den USA und Europa hinsichtlich der Einschätzung der gegenwärtigen Wirtschaftslage wider. Die Amerikaner treten dafür ein, weiterhin die globale Konjunktur anzukurbeln, um damit das Beschäftigungsproblem zu lösen. Europa hingegen verlangt einen Neuanfang. Die Europäer wollen die Konjunkturpakete und andere Fördermaßnahmen auslaufen lassen, um die Staatshaushalte zu konsolidieren und das Finanzwesen zu festigen, während die Amerikaner die Europäern dazu aufrufen, diese Schritte nicht sofort einzuleiten. Sie sorgen sich darum, dass ein Ende der Konjunkturprogramme dazu führen könnte, das Wachstum der Weltwirtschaft zu schädigen und eine Wiederbelebung des Arbeitsmarktes verhindert.
Warum bestehen nach Ihrer Einschätzung zwischen den USA und Europa derartige Differenzen?
Di Dongsheng: Die grundlegende Ursache ist darin zu suchen, dass jedes Land unterschiedliche Ansprüche an die Wirtschaftspolitik formuliert. Obwohl die USA eine Erholung der Wirtschaft errungen haben, ist das Beschäftigungsproblem noch ungelöst. Um die Ziele, welche sich die Regierung Obama während der Wirtschaftskrise gesetzt hat, zu verwirklichen, brauchen die USA bei allen großen Wirtschaftsmächten der Welt noch ein höheres Wachstum des Bruttoinlandprodukts, damit so Export, Investitionen und Beschäftigung in den USA vorangetrieben werden können.
Ganz anders gestaltet sich die Lage jedoch in Europa. Wegen des Ausbruchs der Schuldenkrise in der Eurozone muss Europa die Staatsverschuldung in den Griff bekommen. Außerdem steht Europa vor vielen gesellschaftliche Problemen, u. a. die Überalterung der Bevölkerung oder die zu hohen Kosten bei der Finanzierung des Wohlfahrtsstaates. Außerdem klagen die meisten europäischen Länder über eine zu geringe Inlandsnachfrage. Europa setzt deshalb auf eine Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt und akkumuliert Außenhandelsüberschüsse.
Im Mittelpunkt der transatlantischen Differenzen steht die Frage, ob man eine globale Lösung für einen Ausweg aus der Wirtschaftskrise benötigt. Viele europäische Ökonomen gehen davon aus, dass die Situation der verschiedenen Wirtschaftsräume jeweils so unterschiedlich ist, dass es unnötig für die Welt sei, eine gemeinsame Lösung zu finden. Dem steht beispielsweise die Auffassung des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Fred Bergsten vom Peterson Institute for International Economics gegenüber; er spricht sich klar für eine gemeinsame Lösung aller von der Wirtschaftskrise betroffenen Länder aus. Die Amerikaner erhoffen sich von Westeuropa und Ostasien weitere Konjunkturpakete, die der amerikanischen Wirtschaft dabei helfen sollen, die von der Regierung Obama gesteckten Ziele zu verwirklichen.
Ich denke, es müssten alle Wirtschaftsnationen koordiniert zusammenstehen und eine gemeinsame Lösung finden, denn schließlich handelt es sich auch um eine weltweite Krise. Allerdings ist die schwierigste Phase der Krise bereits überwunden, so dass sich die Länder geordnet aus den Steuer- und Förderungsmaßnahmen für die Konjunktur zurückziehen sollten. In einem zweiten Schritt sollten die Staaten jeweils ein individuelles Gleichgewicht in ihrer Wirtschaftsentwicklung suchen. China muss sich selektiv aus dem Konjunkturpaket zurückziehen, damit die aufgewandten Investitionen nicht ins Leere laufen.