10-02-2010
Der Wiederaufbau im Überblick
Helfen, auch nachdem die Trümmer geräumt sind
von Matthias Mersch

Als sich in Wenchuan am 12. Mai 2008 das verheerende Erdbeben ereignete, wackelten auch in Chongqing die Häuser. Glücklicherweise kamen Menschen im Stadtgebiet nicht zu Schaden. Seit drei Tagen war im Rahmen der Aktion „Deutschland und China – Gemeinsam in Bewegung" die Deutschlandpromenade auf dem Volksplatz im Herzen Chongqings zwischen Großer Halle des Volkes und dem Drei-Schluchten-Museum zu Gast. Die flexiblen Pavillons aus Bambus und Kupferdraht hielten dem Beben stand. Die Katastrophe veränderte aber den Ablauf des Programms, an fröhliche Konzerte war nicht mehr zu denken. Ein letztes Mal aber kam die Bühne noch zum Einsatz: gemeinsam mit der Stadt Chongqing wurde am 17. Mai auf dem Chaotianmen-Platz ein Benefizkonzert veranstaltet. An diesem Abend haben die Bundesregierung, deutsche Unternehmen und chinesische Bürger spontan zehn Millionen Euro für Sofortmaßnahmen und den Wiederaufbau in der Erdbebenregion gespendet.

In den folgenden Tagen und Wochen riss die Spendenbereitschaft in der chinesischen Gesellschaft nicht ab: auch Chinas Milliardäre traten durch teils namhafte Spenden hervor. Wer sich unter ihnen in Zurückhaltung übte, wurde im Internet scharf kritisiert. Eine humanitäre und zugleich patriotische Pflichterfüllung wurde eingefordert. So baute sich ein mehr oder weniger sanfter Druck zur Erhöhung der Spendenfreudigkeit der reichsten Männer und Frauen Chinas auf. Dies trug bei zum beeindruckenden Sammelergebnis und der beispiellosen Solidaritätsbewegung mit den Opfern des Erdbebens, die China im Frühsommer 2008 erlebte.

Chinesen, die Deutschland verbunden sind, fragten in der deutschen Botschaft an, ob irgendwelche Sammelaktionen unter deutschen Firmen und deutschen Staatsbürgern in China vorgesehen seien, an denen sie sich beteiligen könnten. Um den 19. Mai herum war eine Sammelaktion begonnen worden, die sich zunächst auf die Mitarbeiter der Botschaft und deren Angehörigen beschränkte.

 

Schüler werden aktiv

Die Botschaftsschule stand vor einer Frage, die sich ähnlich schon in Chongqing gestellt hatte: Ein ganzes Jahr lang hatten Schüler die Aufführung des Rockmusicals „We Will Rock You" von „Queen" und Bob Elton geprobt, aber sollte es angesichts des Leids in Sichuan und der Trauer in ganz China überhaupt noch über die Bühne gehen? Nach langer Diskussion entschloss man sich dazu, das Musical aufzuführen und bei freiem Eintritt die Zuschauer um freiwillige Spenden für die Erdbebenopfer zu bitten. Bei drei Aufführungen kamen mehrere tausend Yuan zusammen.

Schüler und Eltern waren nun ganz bei der Sache: Spendenboxen wurden in der Botschaftsschule, im benachbarten German Center, in der deutschen Botschaft, in der Praxis des Botschaftsarztes und im Goethe-Institut aufgestellt. Viele Schüler spendeten den Inhalt ihrer Sparbüchsen und verzichteten auf den Mittagstisch in der Schule, um das Kostgeld als Spende zur Verfügung zu stellen. Durch befreundete Familien dehnte sich die Sammelaktion bald auf Shanghai, Guangzhou, Chengdu und sogar bis nach Deutschland aus. Bislang kamen knapp 850 000 Yuan an Spendengeldern zusammen. Das ist gemessen an den Erträgen anderer Spendenaktionen zu Gunsten der Erdbebenopfer von Sichuan kein besonders großer Betrag, aber doch genug, um damit in der Erdbebenregion sinnvolle Aufbauarbeit leisten zu können. Der Spendenbetrag setzt sich aus vielen tausend Einzelspenden zusammen, die für viele tausend Menschen stehen, die helfen wollen.

Um den Charakter des Projekts als Akt konkreter Solidarität zu unterstreichen, waren die Initiatoren der Aktion daran interessiert, mit den Empfängern der Spenden in persönlichen und langfristigen Kontakt zu treten. Klar war, dass man Schüler im Erdbebengebiet unterstützen wollte. Wie aber konnte der Kontakt zu ihnen aufgebaut werden?

 

Der Staat hilft den Helfern

Als überaus hilfreich erwies sich die Zusammenarbeit mit der Children Education Development Foundation (CEDF). Diese Organisation wurde im Jahr 2006 auf Initiative des Finanzministeriums und des Bildungsministeriums der Zentralregierung gegründet und mit einem Stiftungsvermögen von 50 Millionen Yuan versehen. Sie hat es sich zur Aufgabe gesetzt, die Bildungs- und Ausbildungssituation von Schülern in ländlichen Gebieten zu verbessern. Das Projektteam aus Lehrern und Schülereltern der Deutschen Botschaftsschule wünschte sich zunächst eine Schule, an der Deutsch unterrichtet würde, aber von dieser Bedingung verabschiedete man sich bald, denn sie erwies sich als schwer erfüllbar und war nicht wirklich wichtig. Die Schule, auf die schließlich die Wahl gefallen ist, liegt mitten im Gebirge in der Gemeinde Yinhua im Verwaltungsbezirk Shifang.

Beim Erdbeben vom 12. Mai 2008 sind 80 von 453 Schülern und Lehrern der Yinhua Mittelschule ums Leben gekommen. Wie an so vielen anderen Orten im Katastrophengebiet musste auch hier dringend geholfen werden.

Am 11. Dezember 2008 wurde in den Räumen der Deutschen Botschaftsschule in Beijing der Vertrag mit der China Education Development Foundation (CEDF) zur Förderung der Yinghua Mittelschule unterzeichnet. Dabei wurde der Scheck über die bis dahin gesammelte Spendensumme von 590 000 Yuan an die CEDF übergeben. Die CEDF aber fungiert lediglich als Verwalter des Geldes: die Yinhua Mittelschule sagt, wofür sie Mittel benötigt, das Projektteam gibt die entsprechenden Gelder frei, die CEDF zahlt die Beträge aus. In einem ersten Schritt wurden Gelder aufgewendet für die Errichtung eines provisorischen Schulbaus, die Anschaffung von Schuluniformen, Unterrichtsmaterialien und den Kauf von PC und Drucker als Erstausstattung für die Bibliothek der Schule.

Die Spendengelder reichten natürlich nicht aus, um eine neue Schule zu bauen. Die chinesische Luftwaffe stellte die Mittel zum Bau der Gebäude zur Verfügung. Die Bauausführung wurde örtlichen Bauunternehmen anvertraut. Als das Projektteam im Oktober 2009 die Schule besuchte, konnte sich ein deutscher Bauingenieur, der dem Team angehört, von der hohen Qualität der Gebäude überzeugen.

Nicht allein die Yinghua Mittelschule ist nun in die neuen Räumlichkeiten eingezogen. Die ursprüngliche Planung des Bauvorhabens wurde dahingehend verändert, dass vier ehemalige Mittelschulen zur neuen „Shifang Yinghua Bayi Schule" zusammengefasst wurden. Deren 1 435 Schüler werden nun in 29 Klassen der Jahrgangsstufen 1 bis 9 unterrichtet. Zu ihrer Betreuung gibt 156 Personen, darunter Lehrkräfte, technisches Personal und Mitarbeiter der Verwaltung. Der Schule ist ein Internat mit 900 Plätzen angeschlossen, das kostenfrei belegt werden kann. Die Mehrzahl der Schüler lernen und leben also auf dem Schulgelände.

 

Dauerhafte Partnerschaft

Jetzt geht es um die Anschaffung von 70 Computern für die Einrichtung eines elektronischen Leseraums für Lehrer und Schüler und den Ausbau der Bibliothek. Beim Besuch des Projektteams in Yinghua wurden die nächsten Schritte besprochen. Durch das Erdbeben haben viele Schüler ihre Eltern verloren. Im Mittelpunkt der zweiten Phase der Kooperation mit der Schule in Yinghua soll deshalb die Hilfe für Waisen und Kinder aus einkommensschwachen Familien stehen. So ist beabsichtigt, besonders bedürftige Schüler – durchschnittlich drei bis vier pro Klasse – mit bis zu 80 Yuan pro Monat zu unterstützen. Leistungsstarken Schülern soll ermöglicht werden, ihren Schulbesuch auf die drei Jahre der Oberschule auszudehnen. Eine Einladung nach Beijing ist vorgesehen, vierzehn Tage lang sollen Schüler die Hauptstadt und den Schulbetrieb an der Botschaftsschule erleben. In dieser Zeit wohnen sie bei den Eltern von Schülern der Botschaftsschule.

Eine dauerhafte Unterstützung einzelner Schüler ist am besten durch die Gründung eines gemeinnützigen Vereins in Deutschland möglich. Daran arbeitet gegenwärtig das Projektteam. Durch Spendensammeln in Deutschland und die Vermittlung von Patenschaften zur Finanzierung des Schulbesuchs können die Kontakte zur Yinghua Schule langfristig gestaltet werden. Vielleicht kann das fortgesetzte Interesse am Schicksal der Menschen in Sichuan dabei helfen, den unersetzlichen Verlust, den die Kinder durch das Erdbeben erlitten haben, ein klein wenig auszugleichen.