Was die Nanjing Straße für Shanghai oder die Wangfujing Straße für Beijing ist, ist die Sun Yat-sen-Straße für Xiamen. Eine alte Tradition, reges Alltagsleben und gut besuchte Geschäfte mischen sich hier zu einer attraktiven Flaniermeile. Anders als die Straßen in den großen Metropolen ist die Sun Yat-sen-Straße jedoch schon geraume Zeit auf der Suche nach sich selbst. Im Spagat zwischen Geschichte und Gegenwart würde sie sich gerne neu erfinden.
Der Geschichte auf der Spur
Nach dem Opiumkrieg von 1842 wurde Xiamen zu einem wichtigen Handelshafen an der Taiwanstraße. Da die Sun Yat-sen-Straße direkt zu den Kais führt, versammelten sich hier viele Geschäftsleute. Die südostasiatische, westliche und die Kultur der vorgelagerten Inseln mischten sich hier und erlebten eine Blütezeit.
Die heutige Sun Yat-sen-Straße ist 1 202 Meter lang und 15 Meter breit. Sie ist die einzige Straße in China, die direkt ans Meer führt, nicht zuletzt diese Eigenschaft macht sie zu einer der zehn berühmtesten Straßen Chinas. In der Rangfolge der wichtigsten Wahrzeichen Xiamens wurde sie 2008 von der Xiamener „Abendzeitung" auf den ersten Platz gesetzt.
Aber nicht nur die Anlage der Straße ist etwas ganz besonderes, sondern auch die Gebäude, von denen sie gesäumt ist. Die so genannten Qilou vereinigen Stilelemente der südostasiatischen mit europäischer Architektur. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie in der Altstadt von Xiamen und auf der Insel Gulangyu errichtet. Sie haben Arkaden und Fenster aus Holz, und ihre hauptsächlichen Farben sind Rosa und ein milchiges Weiß. Im Laufe der Zeit haben die Gebäude Patina angesetzt, was sie für viele noch anziehender macht.
In Augen der Alteingesessenen ist das Gebiet um die Sun Yat-sen-Straße bis Lundu die charakteristischste Ecke Xiamens.
Die Sun Yat-sen-Straße legt in vieler Hinsicht Zeugnis von der Geschichte Chinas und der Stadt ab. Hier wohnten zahlreiche berühmte Persönlichkeiten, etwa Chen Huacheng, der 67-jährige Kommandant der Festung Wusong, der diese Stellung tapfer gegen die britische Flotte verteidigte und im Kampfe fiel, aber auch Kalligraphen wie Ouyang Zhen, der Pädagoge und Lyriker Chen Guichen und der Sozialaktivist Lin Caizhi. Die vormaligen Wohnhäuser dieser Berühmtheiten sind in dem Mischstil gehalten, der für die ganze Stadt charakteristisch ist. Deshalb ist dieses Viertel auch der Ausgangspunkt der gesamten Stadtentwicklung Xiamens.
Die Xinjie-Kirche, die ebenfalls an der Sun Yat-sen-Straße liegt, gilt als die erste protestantische Kirche in China. Sie wurde 1848 von einem Missionar der Reformed Church of America gebaut. Sie wird heute als Symbol des Kulturkontakts zwischen China und dem Westen angesehen.
Ratlosigkeit am Ende des Jahrhunderts
Auch die Immobilienentwicklung an der Sun Yat-sen-Straße erzählt uns einiges über die Geschichte Xiamens. 1920 begann hier eine geordnete Stadtplanung. Die Straße veränderte sich rasch. Viele Überseechinesen haben hier investiert. 1929 wurde die Sun Yat-sen-Straße offiziell für den Verkehr freigegeben, was ein neues Kapitel in der Geschichte der Urbanisierung Xiamens aufschlug. Im chinesisch-japanischen Krieg wurde Xiamen 1937 von japanischen Truppen besetzt. Handel und Wandel kamen erst einmal zum Erliegen. 1956 baute die lokale Volksregierung diese Straße zur ersten Asphaltstraße Xiamens aus. 1982 wurde die Sun Yat-sen-Straße als mustergültige Promenade hergerichtet. In den neunziger Jahren belebte sich das Geschäft in der Straße wieder, zahlreiche Läden wurden neu eröffnet. Sie entwickelte sich zur klassischen City-Meile.
Zur Jahrhundertwende ist die Straße dann allerdings in den Strudel der schnellen urbanen Entwicklung Xiamens geraten und drohte sogar darin unterzugehen. Nach Angaben des Amtes für Industrie- und Handel der Stadt sind die meisten der 282 Firmen in der Sun Yat-sen-Straße in die Verlustzone geraten. Die hundertjährige Straße hat deutlich an Glanz verloren.
In der beschleunigten Urbanisierung werden die Ströme des ganz großen Geschäfts zunehmend von der Sun Yat-sen-Straße fortgelenkt. Das ehemalige Altstadtzentrum verlor mächtig an Attraktivität. Viele seiner alten Bewohner sind in neue Wohnvierteln umgezogen. Die alte Geschäftsstraße hat ihre Kunden verloren. Mit dem Aufschwung zahlreicher neuen Geschäftszentren wurde der Sun Yat-sen-Straße längst der Rang als Einkaufsparadies abgelaufen. Viele neue Einkaufszentren liegen inmitten dicht besiedelter Wohngebiete. Mit der dort üblichen günstigen Verkehrsanbindung kann die Sun Yat-sen-Straße nicht mithalten: in ihr regieren Staus, Parkplatzmangel, und die Infrastruktur lässt auch in anderer Hinsicht zu wünschen übrig.
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