Wie eine Herberge am Fuße des Himalajas die Herzen von Reisenden mit einzigartigem tibetischem Charme für sich gewinnt.
Freundlicher Gastgeber: Lodre spielt sein sechsseitiges Zupfinstrument, das Dranyan, um die Gäste seines Hotels zu unterhalten.
Während die Dämmerung einbricht, fahren Yang Congbing und sein Freund die letzten paar Kilometer nach Lhaze, einem Kreis im Autonomen Gebiet Tibet, wo der Yarlung-Zangbo-Fluss fließt. Nachdem sie einige Hotels entlang der Hauptstraße verglichen haben, wählen sie ein bescheideneres aus, um dort zu übernachten.
„Wir möchten den ursprünglichen Zustand der Hochebene, das echte Leben und die Kultur der Tibeter kennenlernen." sagt Yang (38), der aus der ostchinesischen Provinz Anhui stammt. Er und seine Reisekameraden sind von Lhasa, der Hauptstadt Tibets, aus aufgebrochen und wollen nach Kathmandu in Nepal - auf dem Fahrrad. „Das im tibetischen Stil aufgemachte kleine Hotel hat uns auf den ersten Blick gefallen", sagt Yang. „Es ist ganz anders als die modernen Hotels und wir wollten etwas Authentisches."
Die Malereien an den Wänden neben dem Tor der Herberge zeigen Volkslegenden, die die Besucher in die tibetische Welt entführen. Drinnen, wenn man in den kleinen Innenhof kommt, der auf zwei Etagen von Gästezimmern umschlossen wird, steht eine bunte Holzkiste in der Mitte des Platzes. Das Behältnis, Chemar genannt, das mit Butter und geröstetem Gerstenmehl gefüllt ist, ist ein für Tibeter glücksverheißender Gegenstand und wird üblicherweise während des tibetischen Neujahrs benutzt. Gäste sind eingeladen, sich der Kiste zu nähern und zum Himmel und zur Erde zu beten. Der Gerstenwein wird ebenfalls neben der Chemar-Kiste in einem großen Kupfertopf gereicht. Gäste können ihre Familien und Freunde hier segnen, indem sie ihre Finger in den Wein tauchen und ihn in die Luft spritzen. Den Einheimischen zufolge ist dies der traditionelle Weg, während des tibetischen Neujahrs zu beten. Diese besondere Willkommens-Zeremonie gibt den Gästen ein Gefühl für die Kultur und den Ort.
Auf einer Seite des Hofs befinden sich mehrere Tische und Stühle, genauer gesagt vor der Küche. Dort werden den Gästen neben traditionellen Kuchen und Snacks tibetischer Buttertee und Süßmilchtee serviert. Sie können sich hier nach einem langen Reisetag entspannen und dabei authentische tibetische Erfrischungen und die Lieder und Tänze, die von Einheimischen vorgeführt werden, genießen. Der Besitzer, ein gastfreundlicher 54-jähriger Tibeter namens Lodre, spielt dann und wann, um seine Gäste zu unterhalten, sein Dranyan, ein sechsseitiges Zupfinstrument.
Während er im Hof sitzt, der Musik lauscht und mit anderen Gästen plaudert, sagt Yang, dass er sich glücklich schätze, diese besondere Herberge gefunden zu haben. „Wenige Menschen kommen hierher, weil sie vor der Höhenlage von über 3000 Metern Angst haben. Ich werde definitiv dieses Hotel meinen Freunden empfehlen, die auch von einem Abenteuer in Tibet träumen."
Unternehmergeist
Mundpropaganda sei der geläufigste Weg, wie Menschen von seinem kleinen Hotel erfahren, sagt Lodre. Er war 1999 der erste Bauer in Tibet, der eine Familienherberge eröffnete.
Die Idee, ein Hotel zu führen, entstand aus der Erfahrung, die seine Familie vor rund 15 Jahren im Transport von Touristen und Waren sammelte. Dadurch, dass sie Besucher von außerhalb der Region trafen, erkannten Lodre und seine Brüder das Bedürfnis der Leute, in Lhaze irgendwo unterzukommen. Daraufhin verkauften sie ihren Truck für 100.000 Yuan (ca. 11.760 Euro), um Geld für eine Hoteleröffnung aufzubringen. Dieser Plan wurde stark von der lokalen Regierung unterstützt. Der Antrag der Brüder wurde genehmigt und sie bekamen zusätzlich einen Zuschuss von 20.000 Yuan (ca. 2350 Euro). Als der Bau des Hotels beendet war, war es kleiner als das jetzige und sie beschlossen, es „Bauernhotel" zu nennen.
Schnell zeigte sich, dass das Hotel eine gute Idee war. Es kam gut bei den Touristen an. „Neben Inlandstouristen nehmen wir auch viele ausländische Gäste auf, vor allem Australier. Ausländische Touristen machen etwas 60 Prozent unserer Kunden aus", sagt Lodre.
„Wir bieten traditionelles tibetisches Essen, behandeln jeden warmherzig und versuchen unser Bestes, unsere Gäste mit echter tibetischer Kultur zu umgeben. Alle diese Anstrengungen haben sich ausgezahlt. Unser Hotel wird von den Gästen gemocht und immer bekannter", fügt er hinzu.
Lodre erwähnt stolz, dass er sogar einmal von China Central Television (CCTV), Chinas nationalem Fernsehsender, interviewt worden sei. Er wurde auch eingeladen, an der Frühlingsfest-Gala des Senders teilzunehmen, einer jährlichen Unterhaltungssendung, die am chinesischen Silvesterabend live gesandt wird und von hunderten Millionen von Zuschauern gesehen wird.
Obwohl Lodre nur drei Jahre Grundschulbildung genossen hat, ist er hochgradig belesen und in den Augen seiner Mitmenschen sehr kompetent. Er spricht Mandarin und sogar etwas Englisch, was hilfreich ist, wenn es um das Hotelgeschäft geht. Vielleicht ist es aber auch seine extrovertierte Art und seine Liebenswürdigkeit, die ihm dabei helfen, sich auf so mühelose Weise mit seinen Gästen anzufreunden.
„In unserem Land haben sich Menschen von Generation zu Generation von der Landwirtschaft und vom Viehhüten ernährt. Menschen mit Unternehmergeist wie Lodre sind selten. Weil sie im Transportgeschäft gearbeitet haben, haben er und seine Verwandten ihre Heimat verlassen und in der Außenwelt Erfahrungen gesammelt", sagt Sangye, stellvertretender Direktor der örtlichen Regierungsstelle. „Die Regierung hofft, dass Lodres Hotel Erfolg hat und er anderen zu Wohlstand verhelfen kann."
Die Mitarbeiter der Herberge sind allesamt Einheimische. Sie werden ermutigt, mit den Gästen zu kommunizieren. Dazu lernen sie Mandarin und Englisch, was die meisten von ihnen dazu befähigt, einfache Unterhaltungen mit ausländischen Besuchern zu führen. Durch die Arbeit im Hotel haben sich ihre Lebensbedingungen verbessert und sie haben wichtige Sprachkenntnisse erworben, die ihnen mehr Perspektiven für die Zukunft bieten.
Freundlicher Gastgeber: Lodre spielt sein sechsseitiges Zupfinstrument, das Dranyan, um die Gäste seines Hotels zu unterhalten.
Das Hotel ist so schnell gewachsen wie erhofft. Vor vier Jahren wurde das Gebäude um einen Hinterhof mit mehreren Zimmern erweitert, die eine bessere Ausstattung haben. „Wir sind dem tibetischen Stil treu geblieben, auf Anraten unserer Gäste hin", sagt Lodre.
Jetzt hat das Hotel mehr als 50 Zimmer, einige davon mit sechs, andere nur mit zwei Betten, um verschiedenen Ansprüchen gerecht zu werden. Eine Übernachtung gibt es ab 15 Yuan (ca. 1,80 Euro). Die privateren Räume mit zwei Betten bekommt man für 200 Yuan (23,50 Euro). Lodre sagt, dass Fahrradfahrer wie Yang lieber in den größeren Räumen mit mehr Betten unterkommen, weil sie billiger sind und sie dort als Gruppe zusammenbleiben können. Nach dem großen Erfolg seiner Herberge in Lhaze eröffnete Lodre vor acht Jahren einen zweiten Standort in Xigaze, der zweitgrößten Stadt Tibets. Die dortige Herberge hat 62 Zimmer, am gleichen Ort ist ein weiteres dreistöckiges Hotel mit 64 Zimmern geplant. „Wir werden auch das ursprüngliche Hotel in Lhaze erweitern, damit es mehr Unterhaltungs- und Erholungsmöglichkeiten für unsere Gäste bietet", sagt Lodre.
Ein Mann mit vielen Talenten
Lodre wird von seinen Freunden als Unternehmer mit fast legendärer Vielseitigkeit bewundert. Bevor er ins Transportgeschäft einstieg, war er ein exzellenter Teppichknüpfer. Lodre stammt aus einer Bauernfamilie, mit 13 Jahren lernte er von seinen Eltern, wie man einen Baumwollteppich knüpft. Sein Talent fiel in der Gegend auf. Nun bringt er nicht nur seinen eigenen Kindern das traditionelle tibetische Handwerk bei, sondern noch weiteren 60 Schülern, und das alles, während er nebenbei ein Teppichgeschäft mit sieben Mitarbeitern leitet.
Obwohl Lodre mit seinem jetzigen Leben zufrieden ist, bedauert er doch einige Dinge. „Ich konnte nur kurz zur Schule gehen, und ich wusste, mit welchen Begrenzungen ein ungebildeter Mensch leben muss", sagt er. Deshalb ist sein größter Wunsch, dass seine Tochter, die eine Senior High School in Xigaze besucht, studieren kann. „Wissen ist sehr wichtig und ich hoffe, dass meine Kinder es nutzen können, um mehr zu erreichen, als es meine Generation getan hat."
Als noch einige Gäste für den Abend in den Hof des Hotels eintrudeln, heißt Lodre sie herzlich willkommen und spielt auf seiner Fiedel, ein fröhliches traditionelles Lied auf den Lippen. Das Lied, so erklärt er seinem Publikum, beschreibt das wunderschöne Leben der Tibeter.
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