10-04-2012
Unterwegs in China
Widerspenstig bis zuletzt: der Hua Shan
von Elias Schwenk

Früh auf den Beinen: Dutzende Gipfelstürmer halten den Sonnenaufgang für die Ewigkeit fest

Der Westgipfel des Hua Shan

Ein neuer Morgen Minusgrade in der Nacht. Ich ziehe Mütze, Schal und lange Unterhose an, um weniger zu frieren. Mein Nachbar hat sich einfach in voller Montur ins Bett geschmissen. Mitsamt Schuhen.

Um halb 5 geht das Licht an. Aufbruchsstimmung. Nach dem Sonnenuntergang am Westgipfel wollen nun alle den neuen Tag am Ostgipfel begrüßen. Die Decke zurückzuschieben fällt unheimlich schwer, aber kurz darauf stehe auch ich wanderbereit vor dem Hostel, die Taschenlampe in der Hand.

 

Schon jetzt wackeln

Dutzende Lichtkegel den Berg hinauf, um das morgendliche Spektakel mitzuerleben. Schläft der Hua Shan noch und lässt seine Besteigung nachts einfach über sich ergehen? Diese Frage drängt sich auf, als ich einem älteren Ehepaar begegne, das den Aufstieg völlig ohne Licht meistert. Ich denke an die fast senkrechten Stufen, die mir schon bei Tageslicht Schwierigkeiten bereitet hatten. Da bleibt nur Kopfschütteln…

Am Ostgipfel angekommen, ergattere ich einen Platz in der ersten Reihe, direkt hinter der Absperrung. Der Hua Shan erwacht nun doch und versucht uns alle von unserem Verweilen abzubringen. Eisige Kälte breitet sich aus. Bibbernd stehen wir da. Viele haben sich alte Armeemäntel geliehen, um nicht allzu sehr zu frieren. Gewinnt der Berg am Ende doch noch?

Doch wir geben nicht auf. Zunächst ist es nur ein blass-blauer Schimmer, aber allmählich erweitert sich das Farbspektrum über türkis hin zu orange und rosa. Ein Blitzlichtgewitter gibt es nicht, aber das Klicken der Kameras haucht durch die Menschenmenge. Inzwischen kann man die ersten Bergketten erkennen, anfangs nur verschwommen im morgendlichen Dunst, dann immer klarer als schwarze Umrisse vor farbenprächtigem Hintergrund. So, als würden sie aus der Ursuppe herausgeschnitten. Die Sonne ist immer noch nicht zu sehen. Aber hinter dem Dunstschleier hervor sendet sie Vorboten des vielleicht ersten richtigen Sommertages. Und schließlich dann doch. Wie als Beweis eines neuen Tages schiebt sich ein schmaler Halbkreis aus dem Dunst hervor. Die Menge johlt. Man kann förmlich spüren, wie dieser Moment hundertfach für die Ewigkeit festgehalten wird. Natürlich auch von mir.

Eine neue Herausforderung taucht auf. Nun, da der Hua Shan sein Kostbarstes preisgegeben hat, will er uns mit dem soeben Erlebten gefangen nehmen und nicht mehr loslassen. Aber man muss sich von dem Erlebten losreißen, sich auf den Rückweg machen, zurück zum Boden der Tatsachen. Meinen chinesischen Mitstreitern jedenfalls scheint das nicht schwer zu fallen. Keine zehn Minuten, nachdem die Sonne zur Gänze zu sehen ist, sind die meisten schon wieder auf dem Weg zurück ins Tal. Auch ich reiße mich schließlich los. Fast ist es mir peinlich, dem Naturschauspiel so brutal den Rücken zu kehren.

 

Wieder hinab Schon nach kurzer

Zeit wird klar, dass der Abstieg nicht unbedingt schneller erfolgt als der Aufstieg. Das Problem: alle wollen jetzt runter. Die Folge: Rushhour in 2000 Metern Höhe! Immerhin einen Vorteil gibt es gegenüber dem Beijinger Abendverkehr. Der Ausblick auf die Täler, die sich nun allmählich mit goldenem Sonnenlicht füllen, macht geduldig.

Irgendwann haben sich aber auch die Menschenmassen verlaufen. Während des weiteren Abstiegs richtet sich mein Blick nun vor allem auf die Menschen, die mir entgegenkommen.

Da sind zum einen die, die sich nach nur einem Viertel der Strecke schon so dahinschleppen, als schafften sie keine weiteren zehn Meter. Da sind aber auch Gestalten wie der bärtige Mönch in seiner gelben Kutte, dem in einem kleinen Ledertäschchen keinesfalls eine Kamera, sondern ein Notizblock mitsamt Stift um den Hals baumelt. Oder die ganz im pinken Hello-Kitty-Outfit gekleidete junge Dame, die den Aufstieg in Ballerinas angeht und dabei erstaunlich gut vorankommt. Ich begegne aber auch den Lastenträgern, die all den Proviant für die zahllosen kleinen Kioske nach oben und den Müll der Touristen nach unten schleppen.

Die letzten sechs Kilometer erscheinen mir endlos lang. In meinem gipfelstürmenden Eifer hatte ich sie gar nicht wahrgenommen. Nun aber spüre ich jeden Schritt bergab in meinen Knochen. Ein letzter schwacher Versuch des Berges sich zu wehren…

Doch das Ziel ist in Sichtweite. Und mit ihm der Erfolg! Ich habe den Hua Shan bestiegen, habe seine Geheimnisse erfahren und kann hernach auch noch meine Geschichte erzählen.

Ich habe den heiligen Berg bezwungen.

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