Einst glaubten die Taoisten, dass hier der Gott der Unterwelt lebte. Unnahbar und abstoßend gewährte der Hua Shan nur den erfahrensten Einheimischen den Aufstieg. Heute ist er ein beliebtes Touristenziel – jedoch nicht ohne Widerwillen.
Um den Hua Shan zu bezwingen, muss man vor allem Eines: Treppen steigen
Zwei Stunden braucht der Bus von Xi'an zum Hua Shan, einem der fünf heiligen Berge des Taoismus. All jene Touristen, die sich mit einem Schnappschuss der Digitalkamera als Reiseerfahrung begnügen, werden aber zunächst enttäuscht. Der Dashang Feng versperrt den Blick auf den Hua Shan. Um den heiligen Berg zu Gesicht zu bekommen, muss man zunächst einmal 100 Yuan Eintrittsgeld zahlen und besser noch in eine Taxifahrt zur Talstation der Seilbahn investieren.
Ich widerstehe der Versuchung der bequemen Seilbahn und beginne meinen Aufstieg zu Fuß. In meinem Gepäck mehrere Liter Wasser, Kekse und fünf nahrhafte Baozi (gefülltes Dampfbrot). Ich bin guter Dinge, doch der Hua Shan will mich keineswegs willkommen heißen. Er grollt, faucht, schickt scharfe Winde und wirft mit Händen voll Regen. Es ist, als wolle er sagen: „Kehr um! Noch ist es einfach! Noch bist du im Tal…"
Gemeinsam mit einigen Wandergenossen flüchte ich hinter einen Felsvorsprung. Die Jacken werden angezogen, dann geht es weiter. Andere Herausforderer drängeln sich inzwischen unter viel zu wenigen Regenschirmen.
Der Berg merkt, dass er uns so nicht kommen kann und ändert blitzartig die Strategie. Binnen einer Viertelstunde scheint die Sonne und im leichten Wind säuselt nur noch die Drohung: „Ich krieg euch schon noch, ihr werdet sehen. Der Aufstieg allein wird reichen."
Die ersten sechs Kilometer führt ein gewundener, aus groben Steinblöcken gefügter Weg durch das Tal. Inzwischen gewährt uns der Berg auch einen Blick auf unser aller Ziel: 2082 Meter ragt der Westgipfel über uns in die Höhe.
Durchhalten
Nach sechs Kilometern dann: Stufen. Wie auf einer Treppe im Stiegenhaus! Anfangs noch eine willkommene Abwechslung zur steilen und holprigen Straße, wird spätestens nach den ersten 1000 Stufen klar, dass vor allem Durchhalten gefragt ist. Und jeder hat da seine ganz eigene Methode.
Musik ist eine. Ob – wie von der Jugend bevorzugt – die schrillen Töne Lady Gagas aus dem Handy, oder – wie von einem älteren Herrn praktiziert – schallende Marschmusik aus den guten alten Zeiten: Hauptsache sie motiviert und lenkt ein bisschen von der monotonen Anstrengung ab.
Aber auch der regelmäßige Blick nach oben steht hoch im Kurs, bei der Suche nach Motivation. Außerdem hat man so einen Grund, für einen Moment stehen zu bleiben. Das Problem ist dann nur, dass einem bewusst wird, wie lang der Weg noch ist. Der Blick ins Tal scheint da sinnvoller. Da sieht man, was man schon geschafft hat, und wird zudem mit atemberaubenden Ausblicken belohnt. Widerwillig lässt der Hua Shan die indiskreten Blicke der Menge über sich ergehen.
Nach drei Stunden erreiche ich den Nordgipfel, mit 1400 Metern der kleinste der in allen vier Himmelsrichtungen aufragenden Gipfel des Hua Shan. Hier stoßen die Damen und Herren aus der Seilbahn zu den Wanderern. Frisch und munter, bereit, ein bisschen zu wandern, vor allem aber die Landschaft zu genießen.
Auf dem Gipfelrundweg
Auch für mich geht es weiter. Über den „Grat des Blauen Drachen" komme ich zu einem Bogentor auf mehr als 1600 Meter Höhe. Hier öffnet sich ein Talkessel zwischen Süd-. Ost- und Westgipfel. Der Rundweg zu den verschiedenen Gipfeln führt auch vorbei an einigen Hostels, bei denen ich mein Glück versuchen will. Also wieder: Stufen – Stufen – Stufen.
Das erste Hostel verlangt 400 Yuan für einen Platz in einem Drei-Mann-Zelt. Wortlos ziehe ich weiter. Allmählich bricht die Dämmerung herein und verleiht meiner Suche Nachdruck. Mit dem freundlichsten aller Lächeln stellt mir der Hua Shan eine mögliche Alternative in Aussicht: Eine Nacht in der Kälte.
Endlich aber stehe ich im letzten Licht des Tages vor dem Hostel des Westgipfels. Den Preis für eine Übernachtung kann ich auf 130 Yuan herunterhandeln, dann zieht es mich in die warme Küche der Unterkunft, in der sich alle Reisenden versammeln. Hier wird geredet, gelacht und gescherzt, hier ist man sicher vor dem Eigensinn des Berges.
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