Schon allein der schiere Aufenthalt an diesem Ort verlängert das Leben. Das zumindest behaupten Senioren, eifrige Regierungsvertreter und optimistische Besucher dieser abgelegenen Gegend. Poyue und einige andere Dörfer in der autonomen Region Guangxi nahe der vietnamesischen Grenze sollen ein „Langlebigkeitscluster" darstellen. Angeblich lebt dort eine ungewöhnlich hohe Zahl von Hundertjährigen, darunter ein 113-Jähriger. Der Kreis Bama weise bei einer Bevölkerung von 250 000 Menschen 74 Hundertjährige auf, einen pro 3 400 Einwohner, sagt Luo Ronghui, ein örtlicher Tourismus-Manager. Das wäre eine bedeutend höhere Rate als in den USA oder sogar in Japan, dessen Bewohner eine der höchsten Lebenserwartungen weltweit aufweisen.
Fachleute der Gerontologie sind allerdings skeptisch, was die Existenz von „Langlebigkeitsclustern" anbelangt. Das hat jedoch nicht den Ehrgeiz der Region Bama schmälern können, ein Zentrum des Gesundheitstourismus zu werden. Auch Besuchern, die nicht an der angeblich lebensverlängernden Luft oder Scholle interessiert sind, wird dort viel Sehenswertes geboten: eine herrliche Karstlandschaft, Lehm- und Bruchsteinhäuser und atemberaubende Höhlen, die einem vorkommen, als schritte man durch einen Skulpturenpark der Natur.
Geplant ist unter anderem der Bau gehobener Übernachtungsmöglichkeiten für ausländische Touristen, die einen Kuraufenthalt suchen ohne kostspielige Anwendungen, Massagen oder Fitnessterror. Der Clou an der Sache: Besucher müssen einfach nur abhängen: die gute Luft tief in die Lungen ziehen, das Wasser trinken, das Essen zu sich nehmen, und schon fühlen sie sich besser!
"Der Schatz der Langlebigkeit gehört allen Menschen”, sagt Herr Luo, der sein Büro in Bama-Stadt hat, eine halbe Autostunde von den Langlebigkeitsdörfern entfernt.
Seine Visionen für die Zukunft der Region schließen ein Besucherzentrum ein, das über separate Einrichtungen für Touristen aus unterschiedlichen Ländern verfügt, so dass sich ein jeder Gast ganz wie zuhause fühlen kann. Tourismus – bislang nur ein schmaler Rinnsal – könnte sich so zu einem mächtigen Wachstumsmarkt für die Gegend entwickeln. „Wir können bis zu 10 000 Besucher täglich empfangen", sagt Luo.
Frank Lin, ein 60-jähriger Textilfabrikant aus Taiwan, hält sich derzeit für drei Monate im einfachen aber sauberen „Hotel Lebensverlängerung" in Poyue auf. Ein Zimmer und drei Mahlzeiten kosten hier 7,95 EUR pro Tag (119 EUR für einen ganzen Monat). Letztes Jahr ist er im Rahmen einer Gruppenreise nach Festlandchina zum ersten Mal hierher gekommen. Es hat ihm so gut gefallen, dass er noch einmal für einen Monat zurückgekehrt ist. Nach dreißig Jahren als Raucher hat Lin innerhalb dieses einmonatigen Aufenthalts das Rauchen aufgegeben und denkt nicht einmal mehr im Traum daran, wieder damit anzufangen. „Wenn Leute in der Großstadt mit dem Rauchen aufhören wollen, werden sie reizbar und denken in einem fort an Zigaretten", sagt er. „Hier habe ich keinen einzigen Gedanken daran verschwendet. Bama ist wirklich ein gesegneter Ort."
Einige andere Weltgegenden sind ebenfalls bekannt für die außergewöhnlich hohe Lebenserwartung ihrer Bewohner. Allerdings gibt es nirgends wissenschaftlich bestätigte Untersuchungen darüber, ob es diese „Jungbrunnen" wirklich gibt. Der Kaukasus in Russland, die japanische Insel Okinawa und das Gebirgsdorf Vilcabamba in Ecuador werden in diesem Zusammenhang oft genannt. Dan Buettner, Autor eines von National Geographic herausgegebenen Buches über Ernährung und Lebensstil in Langlebigkeitsclustern, hat sogar eine Gruppe von Siebenten-Tags-Adventisten im Loma-City im US-Bundesstaat Kalifornien ermittelt. Mögliche Erklärungen für Langlebigkeit reichen vom Verzehr von Joghurt (Kaukasus), zu sparsamem Konsum von Fleisch (Okinawa) bis zum Trinken von Gletscherwasser (Vilcabamba).
Thomas Perls, Extraordinarius für Medizin und Geriatrie an der medizinischen Fakultät der Universität Boston und Leiter des Forschungsprojekts „New England Centenarian Study" hält die Gene für den ausschlaggebenden Faktor beim Altwerden. Der Glaube, dass da etwas in der Luft liegt, in der Erde steckt oder mit dem Wasser getrunken werden kann, was die Lebensdauer erhöht, hält er schlicht für „Unsinn".
Die Behauptung der Langlebigkeit ist nur insoweit glaubwürdig, wie sie sich auf vorliegende Geburtsregister stützen kann. Vielerorts Orte ist das Alter der Bewohner jener Langlebigkeitscluster nicht dokumentierbar. „Die Literatur ist mehrheitlich mit Zeugnissen und Anekdoten angefüllt, aber nirgends gibt es die Spur eines wissenschaftlichen Beweises", sagt Professor Perls. Langlebigkeitscluster sind „in erster Linie eine Werbemasche."
Sag das bloß niemandem im Landkreis Bama! Das Wasser vom Dorfbach gilt als so rein, dass es ohne Behandlung oder Filterung getrunken wird. Ich selbst habe während meines Mittagessens im Hotel Lebensverlängerung drei Glas davon getrunken: es schmeckt gut und ist bekömmlich. Die Einheimischen werfen ganz locker mit Begriffen wie „geringe Alkalität" und "Magnetfelder" um sich, wenn es gilt, heimisches Wasser und Böden zu beschreiben. Weil die Tiere das gesunde Wasser trinken und sich von Pflanzen ernähren, die in der Region wachsen, sei ihr Fleisch anders, sagt Herr Li, der Kurgast aus Taiwan. „Die Leute essen hier fettes Fleisch, aber sie sind alle dünn. Krebserkrankungen sind hier unbekannt."