09-01-2013
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Hinter dem Lächeln--- Die dunkle Seite des Dalai Lama
© Max Milo Éditions

 

I

 

Der Unberührbare

 

 

            Der Dalai Lama hat zwei Gesichter. Das erste zeigt ein unerschütterliches Lächeln. Es projiziert Güte, Weisheit, Toleranz, Pazifismus und eine unerschöpfliche Geduld im Angesicht der Verfolgung. Dies ist das Gesicht, das Magazine und die unzähligen Bücher über Tibet ziert, die in Frankreich und vielen anderen Ländern gefunden werden können.

            Das zweite hingegen zeigt das Stirnrunzeln eines abgesetzten Monarchen, dessen Leben einem höchsten Ziel gewidmet ist: Die Rückkehr nach Lhasa, um ein theokratisches System zu errichten. Auch wenn dieses nie mehr so wie früher sein kann, würde es ihm doch erlauben, die Macht, die er einst genossen hat, wiederherzustellen. Der Dalai Lama hat die Macht von seinem furchterregenden Vorgänger geerbt, und er hatte es nicht eilig, mittels Reformen die außerordentliche institutionelle Gewalt zu beschneiden, die in der zivilisierten Welt schon seit Jahrhunderten beseitigt ist.

            Frankreich leidet unter einer hohen Arbeitslosigkeit, die Arbeitsplatzsicherheit schwindet, Familien werden auseinandergerissen, viele Bewohner des Landes fürchten sich vor der Zukunft, Unternehmen sind mit einer Reihe von Selbstmorden konfrontiert und das Land ist weltweit der größte Konsument von Antidepressiva.

Gleichzeitig erleben wir den Niedergang der größten Religion in Frankreich: die Kirchen leeren sich. Auf dem Land müssen sich mehrere Pfarreien oft einen einzigen Priester teilen. Die Leute heiraten seltener, gehen kaum noch zur Beichte und spenden nur noch geringe Beiträge zum Wohl der Gemeinde. Der Glaube ist in einer Krise. Die Empfehlungen des Vatikans werden kritisiert und die Unfehlbarkeit des Papstes bezweifelt, während immer mehr Fragen das Dogma umgeben, das einst die Missionierung erleichtert hat. Der pferdefüßige Teufel ist auf den Predigten verschwunden, Gott sitzt nicht mehr auf einer Wolke; die Geschichte, dass Eva aus einer Rippe Adams geschaffen wurde, ist möglicherweise das Resultat einer schlechten Übersetzung und so weiter. Der Himmel ist ein zunehmend unscharfer Begriff geworden, da sich die Menschen nicht mehr durch das Versprechen angezogen fühlen, dass der Aufenthalt in Gebetshäusern die Seele unsterblich macht.

            Fast stündlich berichten die Medien über den neuen Gott, vor dem wir alle niederknien sollen. In Tempeln mit dem Namen „Börsen" werden die modernen Heiligen mit barbarischen Namen wie CAC 40, Dow Jones und NASDAQ verehrt.

            Doch dieser Materialismus reicht nicht aus, um dem Leben eines Menschen eine Erfüllung zu geben. In jedem von uns verbirgt sich eine Spur von Spiritualität (oder Träumen, wenn Ihnen dieser Begriff lieber ist), welche auf etwas Immaterielles und Wohlwollendes hofft.

            Das hat seine Folgen. Wenn der Glauben in einem Bereich verloren geht, weil sich die Kirche in der Geschichte den Reichen, den Armeen und den Mächtigen verschrieben und Tausende Verbrechen begangen hat, dann suchen wir unser Bedürfnis nach Spiritualität anderswo zu befriedigen: in einer Religion, die für uns nicht besudelt ist, mit neuen Riten, die sich in der Tugend der Nächstenliebe kleidet, die fähig ist, unverhoffte innere Ruhe zu verleihen oder gar die Gesundheit zu schützen.

Diese neue Religion spricht in herrlich exotischen Wörtern; ihre Klöster, durch die der Duft von Kerzen aus Yak-Butter weht, sind mit Priestern in gelben Roben bevölkert und einer immensen Zahl von Buddha-Figuren versehen, deren Blattgold glänzt. Es ist eine Religion, deren Mekka das „Dach der Welt" ist, eine Religion, die durch das ewige öffentliche Lächeln auf dem Gesicht einer lebenden, nomadischen Ikone, einer Art Glücksbär für Erwachsene symbolisiert wird. Vor diesem Hintergrund ist leicht zu verstehen, wie der Buddhismus des Dalai Lama nicht nur den Boho-Chi von Paris oder die Hippie-Bewegung (welche die ersten waren, die aktiv konvertierten) von sich einnehmen konnte, sondern auch alle anderen, die auf der Suche nach ein wenig Spiritualität, Glück oder nur etwas Neuem waren. Warum auch nicht?

            Das Problem ist, dass in diesem Fall die buddhistischen Tugenden eine Projektionsfläche für Männer sind, die sich von ihrem eigenen Vorteil, von ihrem Verlangen und ihrer Nostalgie für die verlorene Macht und ein verlorenes Gebiet, das sie, wie wir später sehen werden, romantisieren.

            Buddhismus. Ich bezeichne ihn hier als eine Religion, doch sollte man ihn mangels eines Offenbarungsgotts nicht besser als einen Schöpfungsmythos, als eine Philosophie oder ein spirituellen Glauben bezeichnen? Diese Frage kann zahlreiche Kontroversen auslösen. Der Dalai Lama, der ein lebender Beweis für die Unsterblichkeit der Seele ist, ist jeweils eine Reinkarnation von sich selber. (Im Alter von vier Jahren gibt es sich jeweils zu erkennen.) Die rechtfertigt seinen Anspruch auf die spirituelle und weltliche Herrschaft über ein riesiges Gebiet, dessen Bewohner zu seiner Herde gehören. Sie bezeichnen ihn als Seine Heiligkeit, werfen sich vor ihm auf den Boden, wie andere vor dem Papst, und verehren die Bildnisse seiner Vorfahren (sein eigenes ist in China verboten), die sie zwischen Buddha-Figuren stellen und für die sich vor dem Altar Kerzen anzünden.

            Mit all den Klöstern, einer Liturgie, den Mönchen, den Zeremonien, den heiligen Texten und Gesängen, den hingebungsvollen Handlungen, den Gebetsmühlen und -fahnen und dem Versprechen auf ein Leben nach dem Tod, sieht der Buddhismus zweifellos wie eine Religion aus. Er bietet sogar eine Philosophie und einer Reihe von Werkzeugen zur „Selbsthilfe" an, die ich hier allerdings nicht weiter diskutieren will. Der Dalai Lama selbst benutzt das Wort „Religion" und deshalb werde auch ich dies tun, wenngleich mir bewusst ist, dass das für Leser, die im Buddhismus etwas anderes suchen (und vielleicht auch gefunden haben), platt wirken kann.

            Wenn der Buddhismus nur eine Philosophie ist, dann ist sie die einzige der Welt, die sich mit einer derartigen Feinheit kleidet, die so viele Rituale kennt und die einen Meister ernennt, der in ihrem Namen versucht, über ein riesiges Gebiet zu herrschen, in dem alle andere Philosophien verbannt werden – und auch die eigenen Anhänger, wenn sie mehr als nur einen Zentimeter von der Linie abweichen.

            Bevor ich fortfahre, möchte ich klarstellen, dass dieses Buch nicht bezweckt, eine bestimmte Art von Gottesdiensten oder das politische System in China zu hinterfragen. Zahlreiche andere Autoren haben sich bereits diesen Themen gewidmet. Ich habe mich für ein anderes Thema entschlossen: den Dalai Lama. Obwohl er der spirituelle Führer von nur einem Bruchteil der hundert Millionen Buddhisten auf der ganzen Welt ist, erscheint er durch die Macht der Medien als der einzige Führer der Religion. Auch trachtet er nach einer uneingeschränkten Macht über ein Gebiet von der Größe Frankreichs, das in etwa ein Viertel der Landmasse Chinas einnimmt, wo das Gesetz dem Dharma (laut dem Buddhismus das universelle Naturgesetz) folgt, das sich insbesondere in religiösen Texten manifestiert.

            Die Frage ist: wie würde ein „freies Tibet" unter der Herrschaft eines Propheten sein, der den Horror der Nazi-Herrschaft merkwürdigerweise gerne vergisst, der die Wissenschaft kritisiert und der in einem blinden Anachronismus noch immer um eine Hochebene trauert, die er einst beherrschte.

            Würde dies der Demokratie in China helfen? Wäre die Welt ein besserer Ort?

Und ist die mediale und humanitäre Wut rund um Tibet nicht einfach ein Versuch, in China eine eigene Version einer Orangen Revolution wie in der Ukraine herbeizuführen? Diese Revolution, welche das Land 2004 bis in sein Mark erschütterte, war aus dem Ausland überwacht und finanziert worden und diente den geopolitischen Interessen des amerikanischen Imperiums.

Wir versuchen hier diese Fragen durch eine rationale Analyse zu beantworten, bei der wir uns, wie ich bereits sagte, hauptsächlich auf unbestreitbare Texte stützen, von denen die meisten vom Dalai Lama, seinen Komplizen oder freundlich gesonnenen Beobachtern stammen.

            „Der Mann in der safranfarbenen Robe und dem ansteckenden Lachen, der in der ganzen Welt respektiert und nun vom Staatschef willkommen geheißen wird, verkörpert noch immer die Hoffnung von sechs Millionen Tibetern, die in Tibet und im Exil leben", hieß es in einer Depesche der französischen Nachrichtenagentur AFP vom 22. November 2008.

            France 24, ein internationaler Nachrichtensender, der sich selbst zum „französischen CNN" erkoren hat, geht hingegen weniger hochachtungsvoll mit der liebenswerten Autorität des Dalai Lama über den gesamten chinesischen Buddhismus um. Am 9. August 2009 brachte die Nachrichtensendung Reporters einen Beitrag von Capucine Henry und Nicolas Haque, in dem gewarnt wurde, dass der Dalai Lama am 7. Januar 2008 „in einer südindischen Universität eine gewaltverherrlichende Rede" gehalten habe. Der Dalai Lama erschien dabei als ein Besorgnis erregendes Schreckgespenst, da der seiner Exilherde gebot, nicht mehr mit den Brüdern und Schwestern zu sprechen, die Shugden praktizieren.

            Shugden ist in der buddhistischen Tradition eine Gottheit, die in den meisten Teilen der Welt verehrt wird. Darunter auch in China, Indien, Nepal, Bhutan, Bangladesch und der Mongolei, um Russland, Europa und die Vereinigten Staaten nicht zu erwähnen.

            Bereits am 12. August 2005 hatte der Dalai Lama in Zürich öffentlich seine Feindschaft gegenüber einem Glaubensbestandteil bekannt gemacht, der ihm nicht länger passte: „Einige von euch wissen es vielleicht, andere nicht, dass es in der tibetischen Tradition eine Gottheit namens Dorje Shugden gibt, die manche verehren und gegen deren Verehrung ich mich ausspreche, da sie meinen und den Prinzipien eines Dalai Lama widerspricht."

            France 24 erklärte das Verfahren, wie der Weise im Exil sich entschlossen hat, die „Shugden-Bewegung und ihre Anhänger streng zu verurteilen". Unterdessen haben die Bewunderer des selbsternannten Sprechers einer freundlichen Zen-artigen Demokratie (im Gegensatz zum chinesischen politischen System) bestürzt die autokratischen Ansichten Seiner Heiligkeit wahrgenommen. „Ich habe mich nicht aus Eigennutz dazu entschlossen, Shugden zur Seite zu legen; Ich habe meditiert und meinen Entschluss lange in meiner Seele und meinem Geist reifen lassen."

            Dass der Dalai Lama die Praxis auf die Schwarze Liste setzte, bringt konkrete Effekte mit sich: Komplizen Seiner Heiligkeit erhoben auf der Straße ihre Stimme und begannen ihre Brüder und Schwestern zu verurteilen. Diese erfuhren daraufhin in ihrem Alltag eine schwerwiegende Diskriminierung. In öffentlichen Aushängen wurden sie darüber informiert, dass sie an gewissen Orten nicht länger willkommen sind. Einem Tibeter, der in einem südindischen Dorf lebt, und anderen Mitgliedern seiner Gemeinschaft waren plötzlich sämtliche Türen verschlossen. Innerhalb von nur wenigen Monaten wurden diese Abweichler von einer Gemeinschaft verstoßen, die in der allgemeinen Wahrnehmung auf Grund ihres buddhistischen Hintergrunds als wohlwollend gilt. France 24 kam zum Schluss: „Die Shugden-Mönche können keine Läden mehr betreten. Sie sind von den öffentlichen Räumen und gar den Krankenhäusern ausgeschlossen. Auf den Straßen findet man die Bilder ihrer Anführer an die Mauern geheftet, wie bei Verbrechern."

Es ist all zu einfach, einen oberflächlichen Vergleich heranzuziehen, um eine langjährige Annahme umzustoßen. Doch was müssen wir uns dabei denken, wenn eine bestimmte Minderheit aus den Läden verbannt wird und wenn Plakate aufgehängt werden, auf denen Männer angeprangert werden, die einst „unsere Brüder" waren und nun „unsere Feinde" sind?

            Der Tropfen, der das Fass dabei zum Überlaufen bringt, ist die Tatsache dass der Dalai Lama früher selbst diese Art der Götterverehrung praktizierte, bevor er begann, sich gegen sie auszusprechen, sie zu verbieten und schließlich sozusagen jeden in Ketten legen zu lassen, der der Tradition treu blieb, da diese dadurch in seinen Augen zu den Handlagern Pekings wurden. Mit diesem Stigma wurden die Menschen in Indien, ein Land, in dem der Dalai Lama nicht einmal offiziell das Gesetz schreibt, zu Parias (Ausgestoßenen). Wenn wir nun ihr Schicksal hervorheben, können wir uns dann vorstellen, was die Anhänger von Shugden in einem Tibet zu erwarten hätte, das vom Dalai Lama und den Seinigen beherrscht wird?

            Welchen Schrei der Entrüstung würde es geben, wenn die Regierung in Peking in Tibet die gleichen Maßnahmen gegen den Teil der Buddhisten einleiten würde, welche vom Dalai Lama geleitet werden?

            Nachdem die Exkommunikation abgeschlossen war, musste die Propaganda sie nur noch rechtfertigen. Der Dalai Lama hatte seine Entscheidung alleine getroffen, doch zwang er nun seine Jünger, ihn bei der Dämonisierung zu unterstützen. In der indischen Bergstation Dharamsala, dem Sitz der „tibetischen Exilregierung", erklärte der Regierungschef, dass „Shugden-Praktizierende in erster Linie politische und somit innere Feinde" seien. Einer von ihnen, ein sehr einflussreicher Mann, hatte sich eines schrecklichen Verbrechens schuldig gemacht: „Er besuchte China mindestens zwei oder drei Mal." Die offizielle Position war klar: „Sie sind bereit, jeden zu schlagen oder zu töten", fuhr er fort. Im nahen Umfeld des Dalai Lama werden die Shugden-Anhänger als Mörder und, schlimmer noch, als Verräter gebrandmarkt, die auf der chinesischen Gehaltsabrechnung stehen. „So viel ist klar: Die Shugden-Praktizierenden und die Chinesen stehen miteinander in Verbindung. Alle, die Shugden praktizieren, werden von den Chinesen finanziert."

            Diese unbegründete Beschuldigung ist nicht ohne Ironie. Sie kommt von den engen Verbündeten des Dalai Lama, der, wenn auch eher indiskret, selbst Jahrzehnte lang von der CIA finanziell unterstützt worden war.

            Im Jahr 2003 sagte Kelsang Gyaltsen, Gesandter des 14. Dalai Lama in der Europäischen Union, dass sich der religiöse Führer für die Trennung von Kirche und Staat ausgesprochen hat. Er habe sich entschlossen, nach der Rückkehr nach Tibet keine Funktion in der tibetischen Verwaltung mehr auszuüben. Das wäre eine sehr gute Nachricht gewesen, wenn seine derzeitigen Entscheidungen nicht beweisen würden, dass sein meditatives Unterbewusstsein in Indien noch immer von den Vorstellungen beherrscht wird, nach denen er und seine Vorgänger einst Tibet regiert haben.

            Dabei handelt es sich um eine Art von Schönmalerei. Als der Dalai Lama im August 2011 Toulouse in Südfrankreich besuchte, publizierte er ein Bulletin, dessen Absatz „Förderung der Harmonie zwischen den Religionen" diese exzellenten Gedanken zusammenfasst.

            „Auf der Ebene einer Person, die Religion praktiziert, ist die zweite Verpflichtung Seiner Heiligkeit die Förderung von religiöser Harmonie und einem gegenseitigen Verständnis unter den großen Weltreligionen. Trotz philosophischer Differenzen haben alle Weltreligionen das gleiche Potential, gute Menschen zu schaffen. Deswegen ist es für alle religiösen Traditionen von großer Bedeutung, dass sie sich respektieren und den Wert voneinander anerkennen. Was die „eine Wahrheit, eine Religion" angeht, ist dies auf der Ebene der Individuen wichtig. Doch für eine Gemeinschaft im Großen sind mehrere Wahrheiten und mehrere Religionen notwendig."

            Diese Worte sind schon einmal ein guter Anfang. Nun müsste er nur noch vermeiden, hochmütig und mit erhobenen Fingern in sein Königreich zurückzukehren und dort genau das Gegenteil von dem zu tun, was er außerhalb der Grenzen mit einer tiefen Verneigung, zusammengefalteten Händen und einem boshaften Lächeln in seinem Gesicht verkündet hat.

            Der Dalai Lama ist indes alles andere als „in der ganzen Welt" respektiert. Nicht nur repräsentiert er lediglich eine der vier Schulen des Buddhismus (die Gelugpa-Sekte beziehungsweise Gelbmützenorden) und damit nur etwa zwei Prozent aller Buddhisten der Welt, er wird nun auch von einigen der Leute herausgefordert, die mit ihm ins Exil gegangen sind. Da er die 55 anderen ethnischen Gruppen verachtet, die (wie wir noch sehen werden) China ausmachen, beruht sein einziger legitimer Anspruch auf einer beinahe einhelligen Unterstützung durch die westlichen Medien. Um dies zu erreichen, heizt er die öffentliche Stimmung auf.

            Dennoch geht diese Ergebenheit nie so weit, dass sie die Forderung des Dalai Lama nach Unabhängigkeit unterstützen würde. Alle UN-Mitgliederstaaten (von denen nicht alle China wohlgesonnen sind oder sich über die wachsende Macht des Reichs der Mitte freuen) betrachten Tibet als eine chinesische Provinz und nicht als eine Nation, die von einer anderen besetzt wurde. Als Barack Obama im Januar 2011 den chinesischen Präsidenten Hu Jintao in Washington empfing, versicherte er, dass „die USA Tibet als einen Teil der Volksrepublik China anerkennen". Mit anderen Worten: Nicht einziges Land folgt der Forderung des Dalai Lama nach einer Unabhängigkeit Tibets. Niemand schlägt vor, die Region über das Thema abstimmen zu lassen. Die französische Verfassung definiert unser Land als „eins und unteilbar". Es gibt keinen Mechanismus, mit dem sich ein Teil des Landes über ein regionales oder nationales Referendum abspalten kann. Vor diesem Hintergrund steht es uns nicht zu, so etwas an einem anderen Ort einzufordern.

            Wieso sollte Frankreich, dessen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg noch immer schmerzhaft sind, sich für China wünschen, dass es zu Gunsten eines Mannes gespalten wird, der die Verbrechen des Nationalsozialismus seltsamerweise immer wieder vergisst. Der Freidenker Georges-André Morin sagte am 10. September 2006 bei einer Radiosendung von France Culture: „Es ist kaum zu glauben, dass der gegenwärtige Dalai Lama noch 1994 ein Treffen in London mit westlichen Teilnehmern abhalten wollte, die Tibet als ein unabhängiges Land kannten. Zu den sieben Gästen gehörten zwei Mitglieder der Waffen-SS – der Bergsteiger Heinrich Harrer und der Auschwitz-Anthropologe Bruno Berger –, ein chilenischer Diplomat namens Miguel Serrano, der seine Karriere in den Fußstapfen von Kurt Waldheim aufgebaut hat und der enge Beziehungen mit Pinochet und den Nazi-Gruppen im südlichen Chile pflegte." Im April 1999 bat der Dalai Lama die britische Regierung, Augusto Pinochet freizulassen, der während der Zeit seines Englandbesuchs verhaftet worden war.

 

Laurent Dispot sprach in der Tageszeitung Libération das gleiche Thema an. Er schrieb, dass Harrer 1933 der SA beitrat, als Hitler die Macht übernahm. Später wechselte er zur SS und war ein „Liebling des Reichsführers Heinrich Himmler". „Hitler und Himmler hatten ihn höchstpersönlich mit einer Mission betraut: Tibet zu infiltrieren und mit der Genehmigung des jungen Dalai Lama der Privatlehrer des Kinds zu werden."

Harrers Lakaien betonten, dass er während des Zweiten Weltkriegs nicht in Europa weilte und deswegen nicht an den Gräueltaten der SS teilgenommen hatte. Das ist wahr. Stattdessen führte er eine Mission mit „mystischen, rassistischen und strategischen Motiven" aus, nämlich die Suche nach reinen Rassen. Er verbrachte den Rest seines Lebens mit dem Versuch, seine Nazi-Vergangenheit zu verstecken. Stattdessen bevorzugte er es, die Werte von Tibet, das er als den „goldenen Standard für eine religiöse Diktatur" ansah, hoch zu loben.

            Der Dalai Lama hat diese Episode aus seiner Kindheit reingewaschen. In seinen eigenen Versionen behauptet er, dass die dicken Mauern des Potala die Tumulte des Zweiten Weltkriegs ausgeblendet haben. Im besten Fall erreichten ihn damals in Tibet „Berichte" davon. „Doch nur wenige Ereignisse der Weltgeschichte haben uns in Lhasa beeinflusst." Offenbar hatte sie das SS-Mitglied Harrer nie erwähnt. Wie auch immer, der Weise hat sich nie von seinem Lehrer distanziert, der ihm vom Führer geschickt worden war. Im Gegenteil, er ist noch immer für den Mann dankbar, der ihn mit „dem Westen und seiner Modernität bekanntgemacht" hat.

            Ähnlich beunruhigend sind die Beziehungen des Dalai Lama mit Shoko Asahara, dem Gründer der japanischen religiösen Gruppierung Aum Shinrikyo und Sponsor der tibetischen Sache (Fotos zeigen die beiden Männer Hand in Hand). Es war genau dieser Asahara, der am 20. März 1995 die Welt mit einem Sarin-Gas-Anschlag auf die Tokioter U-Bahn erschreckte.

            Das letzte verwirrende Detail ist jedoch seine Beziehung zur CIA, wie wir noch sehen werden.

            Es gibt ganz klar Gründe, um die Tatsache zu bedauern, dass sich der Dalai Lama bei seinem Kampf um Unabhängigkeit ebenso wenig um seine Methoden wie um die Wahl seiner Verbündeten, Freunde und finanziellen Unterstützer kümmerte.


 

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