22-08-2012
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Die Vorzüge der Meritokratie in China
von Daniel A. Bell

Das Konzept der politischen Meritokratie geht von der Auswahl derjenigen zu politischen Führern aus, die in überdurchschnittlichem Maße über eine moralisch fundierte politische Urteilskraft verfügen.

Die moderne politische Theoriebildung ließ die Meritokratie weitgehend außer Acht, doch gibt es – besonders im chinesischen Kontext -- drei gute Gründe, dieses politische Ideal wiederzubeleben und neu zu interpretieren. Erstens war und ist die Meritokratie von zentraler Bedeutung für die politische Kultur Chinas. Zweitens ist die Demokratie ein mangelhaftes politisches System. Mithilfe der Meritokratie ließen sich manche ihrer Mängel beheben. Drittens hat sich die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) im Laufe der letzten drei Jahrzehnte zu einer meritokratischeren Organisation gewandelt.

Meritokratie bildet ein Kernthema in der Geschichte der politischen Kultur Chinas. Die Idee der „Hochschätzung der Tüchtigen" entstand infolge der Auflösung der auf verwandtschaftlicher Abstammung begründeten aristokratischen Ordnung der Frühlings- und Herbstperiode (770 v.Chr. - 476 v.Chr.). Von den bekannten Denkern der Zeit der streitenden Reiche (475 v.Chr. – 221 v.Chr.) teilten die meisten diese Vorstellung, und die politischen Debatten kreisten um die Frage, wie Verdienst und Leistung zu definieren seien und wie man politische Institutionen und Verfahren entwickeln könnte, die auf diesen basierten.

Bei Konfuzius geht der politischen Meritokratie die Annahme voran, dass jedes Individuum Zugang zu Bildung erhalten sollte, aber nicht alle am Ende über die Fähigkeit, moralisch fundierte politische Urteile zu fällen, verfügen würden. Daraus ergibt sich, dass eine Hauptanforderung an das politische System darin besteht, politische Führer auszuwählen, die eine außergewöhnlich gut ausgeprägte politische Urteilskraft aufweisen, und so viele begabte Menschen wie möglich zu ermutigen, sich in die Politik zu begeben. Diese Art von politischen Führern könnte laut Konfuzius das Vertrauen der Menschen gewinnen.

Im China der Kaiserzeit war das Beamtenprüfungssystem die institutionalisierte Form der Meritokratie. Erfolgreichen Kandidaten ebnete es den Weg zu Ruhm und Macht. Das System mag seine Mängel gehabt haben, immerhin aber schuf es einen Standard zur Auswahl von Talenten und gestattete in beschränktem Maße soziale Mobilität. In Korea und Vietnam wurde das Prüfungssystem übernommen, ein System, das auch Einfluss auf die Beamtenprüfungen in westlichen Ländern ausübte. Die vernünftige Entscheidungsfindung meritokratisch gewählter politischer Führer war zumindest teilweise für die schnelle Entwicklung ostasiatischer Gesellschaften nach dem 2. Weltkrieg ausschlaggebend.

Noch heute, so zeigen politische Umfragen, findet das Ideal der politischen Meritokratie in ostasiatischen Gesellschaften mit konfuzianischem Erbe breite Zustimmung. In China bevorzugen viele den „Diskurs der Schutzherrschaft", der das Bedürfnis beinhaltet, „hochqualifizierte Politiker" zu ermitteln, „welche die Ansprüche der Bevölkerung wichtig nehmen, die Interessen der Menschen bei ihrer Entscheidungsfindung miteinbeziehen und im Interesse der Bevölkerung und Gesellschaft gute politische Maßnahmen wählen", gegenüber einem liberalen, demokratischen Diskurs. Letzterer gibt formalen Verfahren den Vorzug, welche die Rechte der Menschen gewährleisten, an der Politik zu partizipieren und ihre politischen Vertreter selbst wählen zu können.

 

Die KPCh und die Meritokratie

In ihren Anfängen lehnte die Volksrepublik China unter Mao Zedong vom Konfuzianismus inspirierte Vorstellungen einer politischen Meritokratie dezidiert ab. Vielleicht eine verständliche Haltung angesichts der Priorität, die der Sicherung der Errungenschaften der Revolution, der militärischen Stärke und der Entgegnung ausländischer Einmischung eingeräumt wurde. Inzwischen aber muss sich China aufgrund der Entwicklung eines relativ gefestigten und starken chinesischen Staates unter der Führung der KPCh weniger um das Überleben durch politische Vergemeinschaftung sorgen. Infolgedessen verlagerte sich der Schwerpunkt hin zur Good Governance durch kompetente und rechtsschaffende politische Führer. So wurden die Aufnahme- und Aufstiegsmechanismen der KPCh meritokratischer.

Heute rekrutiert die KPCh ihre Mitglieder vor allem auf dem Unicampus. Einem Bericht von China.org.cn zufolge waren 2010 an Eliteuniversitäten wie der Tsinghua Universität 28 Prozent aller Studierenden in Bachelorprogrammen, 43 Prozent der Studierenden im letzten Semester und bis zu 55 Prozent aller Studierenden im Masterstudiengang Mitglieder der KPCh. Die Partei hat auch die „neue gesellschaftliche Schicht" der Young Professionals in den Städten, darunter Geschäftsleute und Manager von Privatunternehmen, Anwälte und Steuerberater als Zielgruppe im Auge.

Das Beförderungssystem der Kader ist sogar noch deutlicher meritokratisch. Unlängst hat der Leiter der Organisationsabteilung des Zentralkomitees der KPCh, Li Yuanchao, in einer Gesprächssitzung mit chinesischen und ausländischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen einige faszinierende und erhellende Details geliefert. Er wies darauf hin, dass auf den verschiedensten Regierungsebenen unterschiedliche Kriterien herangezogen werden, um Fähigkeiten und Tugenden zu messen. Auf den oberen Regierungsebenen wird mehr Wert auf Rationalität gelegt, da die Kader mehrere Faktoren berücksichtigen müssen und die Entscheidungsfindung einen breiteren Bereich der Regierung umfasst. Doch auch Tugenden wie die Sorge um die Bevölkerung und eine praktische Einstellung spielten eine Rolle. Von den Kadern werde außerdem erwartet, ein Vorbild für korruptionsfreies Regieren abzugeben.

Minister Li veranschaulichte die streng meritokratische Art des Auswahlverfahrens für die höheren Regierungsebenen am Beispiel des Generalsekretärs der Organisationsabteilung des Zentralkomitees der KPCh: am Anfang steht ein Nominierungsverfahren, an dem auch pensionierte Kader beteiligt sind. Kandidaten mit vielen Nominierungen kommen in die nächste Runde und legen eine Prüfung ab. Von den mehr als zehn Teilnehmern kommen fünf weiter. Um zu gewährleisten, dass alles fair abläuft, werden die Prüfungsbögen im Gang aufgehängt, so kann jeder die Ergebnisse nachvollziehen. Darauf folgt eine mündliche Prüfung vor einer Kommission, die sich aus Ministern, Vizeministern und Universitätsprofessoren zusammensetzt.

Um Transparenz und Fairness zu garantieren, überwachen einfache Kader, die dem Generalsekretär zuarbeiten, den Prozess vom Anfang bis zum Ende. Die drei Kandidaten mit der höchsten Punktezahl dürfen in die nächste Runde. Nun nimmt ein von der Personalabteilung geleitetes Untersuchungsteam die Leistungen und Tugenden der Kandidaten unter die Lupe und empfiehlt zwei von ihnen für das nächste Level. Die endgültige Entscheidung trifft ein Komitee aus zwölf Ministern, die jeweils über eine Stimme verfügen, wobei mindestens acht Stimmen für die erfolgreiche Durchsetzung eines Kandidaten erforderlich sind. Wird dieses Abstimmungsergebnis im ersten Wahlgang nicht erzielt, beraten sich die Minister solange, bis sich schließlich zwei Drittel von ihnen auf einen Kandidaten einigen.

 

Die Meritokratie weiter verbessern

Die Vorzüge einer „tatsächlich existierenden" Meritokratie innerhalb der KPCh liegen auf der Hand. Die Kader durchlaufen einen äußerst strapaziösen Prozess der Talentselektion, nur jene, die hervorragende Leistungen erbringen, schaffen es in die höchsten Regierungspositionen. Während der Ausbildung soll auch die Anteilnahme der Funktionäre für benachteiligte Bevölkerungsgruppen gefördert werden, beispielsweise durch kurzfristige Arbeit in armen ländlichen Gebieten.

Ein meritokratisches Auswahlverfahren wie das in China funktioniert wahrscheinlich nur im Kontext eines Ein-Parteien-Staats. In einem Mehr-Parteien-Staat, wo das Kernpersonal bei einem Regierungswechsel vollkommen ausgetauscht werden kann, ist es keinesfalls sicher, ob die Leistung auf unteren Regierungsebenen auf höheren belohnt wird. Auch gibt es keinen starken Anreiz, Kader auszubilden, wenn diese keine Chance haben, auch auf höheren Regierungsebenen Erfahrungen zu sammeln. Das bedeutet, selbst talentierten Führungspersönlichkeiten wie Barack Obama können Anfängerfehler passieren,  sobald sie an der Macht sind, weil sie nicht ausreichend darauf vorbereitet wurden, das Kommando an der Regierungsspitze zu übernehmen. Aufgrund ihrer Ausbildung und spezifischen Erfahrung neigen die chinesischen Führer weniger zu solchen Fehlern.

Sobald sich chinesische Politiker in einflussreichen Positionen befinden, können sie Entscheidungen treffen, welche die Interessen aller relevanten Interessensgruppen miteinbeziehen, dazu zählen auch zukünftige Generationen und Leute, die nicht in China leben. Führungsspitzen in Mehr-Parteien-Demokratien, die in kompetitiven Wahlen bestimmt wurden, müssen sich hingegen Gedanken um die nächste Wahl machen und tendieren eher dazu, Entscheidungen zu treffen, die von kurzzeitigen politischen Überlegungen beeinflusst werden und die Chancen auf ihre Wiederwahl erhöhen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Interessen jener, die nicht an den Wahlen teilnehmen (darunter auch zukünftige Generationen), ernstgenommen werden, sollten sie den aktuellen Interessen der Wählerinnen und Wähler widersprechen.

Außerdem hat die Tatsache, dass die tatsächlichen Machthaber in westlichen Demokratien von der Bevölkerung in Wahlen bestimmt werden, zur Folge, dass „Bürokraten" ein geringes Ansehen genießen. Die Folge ist, dass weniger Talente in der Bürokratie tätig sein wollen. Dieser Makel ist im politischen System der USA wohl besonders deutlich. Anders gibt es im chinesischen politischen System keine klare Trennung zwischen „Bürokraten" und „Machthabern", weshalb ambitionierte, begabte Menschen es nicht scheuen, auf den unteren Ebenen des politischen Systems zu arbeiten -- die Hoffnung hegend, einmal die Karriereleiter emporklettern zu können.

Dennoch mag es sein, dass die chinesische Form der Meritokratie nicht universell anwendbar ist. Zum einen kann es sein, dass sie nur in einer politischen Kultur, die politische Meritokratie wertschätzt, haltbar ist: wie oben bereits erwähnt, belegen politische Umfragen, dass ostasiatische Länder mit konfuzianischem Erbe dazu neigen, die Meritokratie positiv zu bewerten. Das muss nicht für andere Kulturen gelten. In der politischen Kultur der USA etwa hat sich ein starker „anti-elitärer" Ethos herausgebildet. Die Zustimmung zu einer Ein-Parteienherrschaft ist kaum vorstellbar. Das bedeutet nicht, dass das amerikanische politische System frei von elitären Zügen wäre (beispielsweise sind die beiden letzten Präsidenten Absolventen der Eliteuniversitäten Harvard und Yale), aber die politischen Führer tendieren dazu, dies nicht offen zu thematisieren. Noch schwerer fällt es einem, sich grundlegende Reformen des politischen Systems der USA vorzustellen, welche die Meritokratie förderten (es ist wahrscheinlicher, dass es eine Wendung zum Schlechteren geben wird, zum Beispiel zu mehr Militarismus im Falle eines neuen großen Terroranschlags auf amerikanischem Boden).

Es mag Wege geben, die politische Meritokratie, wie sie sich in China ausgestaltet, zu verbessern. Tatsächlich bin ich mir darüber noch nicht ganz im Klaren. Meine Auffassung ist noch nicht genug durch ein tiefergehendes Verständnis des politischen Systems fundiert. Ich möchte daher zunächst ein paar Fragen stellen.

Erstens frage ich mich, ob die mangelnde Transparenz im Prozess der Talentselektion dem Ruf der Regierung schadet. Wenn die Leute das Auswahlverfahren nicht kennen, könnten sie den Verdacht hegen, es komme bei Beförderungen in erster Linie auf Loyalität, guanxi (Beziehungen) und Bestechung an. Den tatsächlichen Mechanismus offen zu legen, kann diesen Verdacht zerstreuen. Als ich Minister Li über den strengen Auswahlprozess für den Posten des Generalsekretärs der Organisationsabteilung des Zentralkomitees der KPCh reden hörte, hatte ich gleich zehn Mal soviel Respekt vor ihm, da er ja erfolgreich aus diesem Verfahren hervorgegangen ist. Ich nehme an, andere würden ähnlich reagieren. Selbstverständlich spricht die Tatsache, dass Minister Li uns von dem Prozess berichtete, für die Entscheidung, die Transparenz zu erhöhen. Und das ist ein gutes Zeichen.

Zweitens frage ich mich, ob Einschränkungen der Redefreiheit nicht die meritokratische Entscheidungsfindung hemmen. Die besten politischen Entscheidungen werden auf Grundlage vollständiger Informationen getroffen, doch die Angst vor negativen Konsequenzen könnte die Interessensvertreter daran hindern, frei ihre Meinung zu äußern. Während die KPCh interne Umfragen durchführt, um so viel wie möglich an Informationen zu sammeln und Kader anzuspornen, sich ständig weiterzubilden und ihre Kompetenz zu verbessern, könnten weniger Hindernisse für die Redefreiheit die Qualität der Entscheidungsfindung verbessern.

Drittens frage ich mich, ob das Auswahlverfahren Frauen benachteiligt. Angesichts des enormen Zeitaufwands lässt sich Karriere schwer mit Familienleben vereinbaren. Nachdem es meist Frauen sind, die sich um den Zusammenhalt der Familie und die Betreuung der Mitglieder kümmern, fehlt ihnen meist die Zeit, um mit Männern in einen Wettbewerb um Regierungsposten zu treten. Der Eintritt von mehr Frauen in die Politik sollte gefördert werden.

Viertens frage ich mich, ob das Auswahlverfahren für Führungsposten genug Zeit für eine gründliche Reflexion ethischer und politischer Themen lässt. Möglicherweise reichen wenige Wochen auf der Parteihochschule nicht aus, um die Klassiker der politischen Theorie, Geschichte und Philosophie zu lesen und so sein Wissen zu vertiefen und ethisch fundierte politische Urteile fällen zu können. Würden politische Führer etwa dazu angeregt, sich eine Auszeit von sechs Monaten zu nehmen, in denen sie mit kaum einer anderen Verpflichtung belastet wären als der Lektüre großer Werke der Geistesgeschichte, hätte das mit großer Wahrscheinlichkeit eine positive Wirkung auf ihre politische Urteilsfähigkeit.

Fünftens frage ich mich, ob es nicht erforderlich wäre, in den Auswahlprozess stärker Auslandserfahrungen der Kandidaten einzubringen. Natürlich ist es die Hauptaufgabe der KPCh, dem chinesischen Volk zu dienen. Aber China ist inzwischen eine bedeutende globale Macht -- was in China geschieht, wirkt sich auch auf die Menschen außerhalb der Landesgrenzen aus.

 

Der Autor ist Professor für Politische Theorie und Leiter des Center for International and Comparative Political Philosophy an der Tsinghua Universität und Inhaber des Zhiyuan Lehrstuhls am Institut für Geisteswissenschaften an der Shanghaier Jiaotong Universität. 2008 erschien sein Buch „Chinas New Confucianism: Politics and Everyday Life in a Changing Society".