10-04-2012
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Hier kotzte Goethe - Zum 180. Todestag des Olympiers
von Matthias Mersch

Über Goethe herrschte immer schreckliche Einigkeit: Im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Dritten Reich, in der DDR und in der Bundesrepublik. Gut, er wurde mitunter kritisch diskutiert, einige Nazis nahmen Anstoß am Kosmopolitischen seines Denkens und gelegentlichen Handelns. Über die Kritik am "Fürstenknecht" siegte in der DDR die Idealisierung Goethes zum faustischen "Vollstrecker" des neuen Zeitalters. Die Vorstellung, dass die in "Faust. Der Tragödie zweiter Teil" projektierte "Offene Gegend" so etwas wie eine Vorwegnahme der DDR sei, manifestierte sich in seinem Konterfei auf dem 20-Mark-Geldschein der Ostwährung, dessen Tauschwert leider weit unterhalb des Wertes der Dichtung Goethes rangierte. Diese bedauerliche Tatsache aus der Welt der politischen Ökonomie trug erheblich zum Untergang des Staatswesens bei, das in seinem Schilde ein Symbol der Freimaurerei führte, der auch Goethe zugehörte. In Westdeutschland war Goethe ungeachtet der Stürme der 68er-Zeit auch in den siebziger Jahren unangefochten Abiturstoff an Gymnasien und er bleibt es bis in die Gegenwart.

Aber längst aufgekündigt ist das Untermietverhältnis, schon lange höre ich niemanden mehr davon reden, er habe "seinen Goethe" gelesen. Ein spöttischer Respekt aber ist bis heute geblieben. Er macht sich eher über den Kult lustig, den Goethe und seine Nachwelt um ihn trieb, als über Goethe selbst. Karl Hoche hat dies Mitte der siebziger Jahre in eine biographische Notiz gekleidet, die das Wesen des Olympiers und die ihm erwiesene Referenz recht gut erfasst:  "Als uralter Knacker, Christiane hatte schon längst den Löffel weggeschmissen, reisst er noch die neunzehnjährige Ulrike von Levetzow auf, der Ehemuffel macht ihr sogar einen Heiratsantrag, weil sie ihn sonst nicht reingelassen hätte. Aber da ist der Ofen eigentlich schon aus, der Meister hustet hierzu nach alter Gewohnheit noch ein Gedicht aufs Papier, und am 22. März 1832 haut es ihn dann endgültig vom Schlitten.

Goethe, der im Alter oft als ein reichlich pompöses Arschloch auftrat, war in Wirklichkeit ein enorm kaputter Typ, der alle Mühe hatte, einigermaßen auf dem Damm zu bleiben. Mit einem ganz schön happigen Weinkonsum war er übrigens echt drogenabhängig, auch wenn die Art des Stoffs, Opas Alkohol, nicht gerade riesig ist. Seine große Gabe: Er hatte oft ein wahnsinnig gutes feeling. Lebte er heute, wäre er vielleicht sogar noch besser als Peter Handke."

Fast vierzig Jahre später stellt Hamacher die ungebrochene Modernität Goethes vor allem in den "Wahlverwandtschaften" fest, für mich ein Grund, das Buch wieder einmal in die Hand zu nehmen und hundertachtzig Jahre nach dem Tod des Autors endlich ganz zu lesen: "... die aus Goethes Werk bekannten Grundprobleme finden sich hier versammelt in einem summierenden Grundzug, der für ein bedeutendes künstlerisches Spät- oder Alterswerk charakteristisch ist: die Individualitätsentwicklung, die Rolle der Frau, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das Problem der Religion, das Bedrohlich-Elementare der Natur."

Nun gut, hier klingeln die Scheidemünzen braver Germanistik ("Jedem edlen Ohr / Kommt das Geklingel widrig vor"), aber im Jahre eins nach dem Tsunami an Japans Nordostküste, der eine Atomkatastrophe auslöste, die unseren Umgang mit der Welt nachhaltig verändern wird, ein Jahr vor der Wahl eines US-Präsidenten, der Mormone ist, und inmitten der in China anbrandenden Sexwelle, denke ich, sind "Die Wahlverwandtschaften" dann doch eine Lektüre auf der Höhe der Zeit, oder?

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