Die Schweiz sollte übrigens nur noch wenige Wochen vom Umsturz der alten Verhältnisse, Bürgerkrieg und den Winkelzügen französischer Machtpolitik verschont bleiben: 1798 konstituierte sich die Helvetische Republik nach dem Vorbild der Cisalpinischen Republik Norditaliens und der Batavischen Republik in den südlichen Niederlanden. Langlebig war keine von ihnen: jeweils rund fünf Jahre hielten die ersteren beiden, fast sieben Jahre die Republik auf dem Territorium des heutigen Belgiens. Ihre Abschaffung fällt zusammen mit jeweils situationsbedingten Sinneswandeln Napoleons, seinem Reagieren auf aktuelle militärische und politische Konstellationen. Dennoch verbanden sich in diesen abhängigen Staaten wie überall im französisch besetzten Europa moderne Züge der Staatsverwaltung, die Konstitution bürgerlicher Rechtsordnungen inklusive persönlicher Freiheitsrechte mit der Erpressung von Kriegskontributionen, Verarmung durch Einquartierung französischer Truppen und Elend durch Vergewaltigungen, Plünderungen und die Zwangsrekrutierung wehrtauglicher Männer sowie durch Kriegshandlungen zum Nachteil der Bevölkerung. Goyas "Los desastres de la guerra" legen von den misslichen Seiten dieser Neuordnung Europas das eindrucksvollste Zeugnis ab.
Am 2. Oktober 1808 - er arbeitet an den "Wahlverwandtschaften" - erhält Goethe auf dem "Fürstenkongress" in Erfurt eine Audienz bei Napoleon. Man spricht über den "Werther" und die französische Bühne, die Goethe seit seiner Kindheit durch Theaterbesuche in Frankfurt und durch Lektüre der Bände aus dem Buchvorrat seines Vaters sehr vertraut ist. Im Rahmen des "Fürstenkongresses" führt die Comédie Française französische Klassiker auf. Am 14. Oktober verleiht Napoleon ihm den "Orden der Ehrenlegion". Napoleons Niederlage in Russland fünf Jahre später lässt Goethe über den Dämon nachdenken, der nicht dauerhaft als Schutzengel den Lebensweg eines Menschen begleitet, sondern ihn schadenstiftend durchkreuzen kann. Aus einem Symbol der Lebenskraft verwandelt er sich in die böswillige Fratze des Zufalls. Schon der Titel "Die Wahlverwandtschaften" (sie erscheinen 1809, Goethe ist sechzig) enthält den Hinweis auf die Fusion von Literatur und Wissenschaft, die der Roman nach Expertenmeinung vollzieht.
Unruhen, Revolutionen gar, schätzte Goethe nie, auch und vor allem nicht am Ende seines Lebens: Die Julirevolution des Jahres 1830, die den „Bürgerkönig" Louis-Philippe an die Macht brachte, machte er für Unruhen in Jena im September dieses Jahres verantwortlich.
Ende 1831 bricht Charles Darwin zu seiner Weltreise auf, deren Ergebnisse eine Revolution anderer Art auslöste, ihre Wirkung - Kreationisten hin oder her - dauert bis heute. Bei Rückkehr des Forschers ist Goethe, den naturwissenschaftliche Fragen bis in die letzten Tage seines Lebens interessierten, schon vier Jahre tot. Zehn Tage nach seinem Tod wurde eine seltsame Verordnung aus seiner Feder wirksam: Sie verfügte die Einstellung der regelmäßigen Wetterbeobachtungen im Großherzogtum zum 1. April 1832.
Erschiene mir es nicht als unsinniges Wortspiel, wollte ich noch verweilen bei Evolution – Revolution, einem Begriffspaar, das sowohl für Darwin wie auch für Goethe von Bedeutung ist, denn die Vorstellung einer Evolution lag dem Denken beider Männer nah, sie bevorzugten den Gedanken einer sich entfaltenden und ordnenden Fortentwicklung gegenüber den Risiken einer Umwälzung. So ist auch Goethes Tod nicht der Abschluss seiner künstlerischen Existenz, sondern nur ein weiterer Schritt in der Entwicklungsgeschichte seiner persona. Der Dichter disponierte und projektierte ganz bewusst weit über sein Leben hinaus: erst 1842 erschien der letzte Band seiner Werkausgabe; dieser Abschuss eines Pfeils mit dem Ziel Ewigkeit war von ihm gewollt. Wenige Wochen vor seinem Tod sagte er am 17. Februar 1832 zu Soret: "Mein Lebenswerk ist das eines Kollektivwesens, und dies Werk trägt den Namen Goethe."
Selbstzeugnisse dieser Art luden natürlich zu allerhand Psychologisierungen ein. Walter Benjamin nennt die Vorstellung, dass "unter allen Goetheschen Werken das größte sein Leben sei das "gedankenloseste Dogma des Goethekults". Und doch wird entlang dieser Linie bis heute gedacht: In einer Publikation aus dem Jahre 2010 sieht Bernd Hamacher Goethes Lebensentwürfe als "Krisen- und Katastrophenmanagement", welches ihn zu einem eminent modernen Menschen gemacht habe, dessen Modellen wir in der Gestaltung unseres eigenen Lebens noch immer folgten. Und auch Benjamin selbst hat durch seine poetische Deutung zur Fügung unseres Bildes vom Verhältnis von Leben und Werk bei Goethe beigetragen:
"Vielleicht weil seine Jugend aus der Not des Lebens oft allzu behände Flucht ins Feld der Dichtkunst ergriffen hatte, hat das Alter in furchtbar strafender Ironie Dichtung als Gebieterin über sein Leben gestellt. Goethe beugte sein Leben unter die Ordnungen, die es zur Gelegenheit seiner Dichtungen machten. Diese moralische Bewandtnis hat es mit seiner Kontemplation der Sachgehalte im späten Alter."
Das Leben gebeugt unter Ordnungen. Lässt man das Dichterische beiseite, das der bürgerlichen Tüchtigkeit stets ein Dorn im Auge ist, wird Goethe zu unser aller Stellvertreter. Im Jahre 1913 gab Georg Simmel dem Affen des Goethekults noch einmal kräftig Zucker: „Wir empfinden seine Entwicklung als die typisch menschliche - … in gesteigerten Maßen und klarerer Form zeichnet sich an ihm, in und unter all seinen Unvergleichlichkeiten, die Linie, der eigentlich jeder folgen würde, wenn er sozusagen seinem Menschentum rein überlassen wäre."
Hier ist er also, der Goethe in uns! Und tatsächlich weist das Leben Goethes alle Attribute auf, die es dem direkten Vergleich öffnen. Er lebte lange und war früh berühmt, wer träumte nicht von beiden Vergünstigungen des Schicksals? Trotz guter Ausgangslage war Goethe zahlreichen Fährnissen ausgesetzt, so lässt sich jedermanns Leben an dem seinen messen: Was hatte Goethe in meinem Lebensalter erreicht? Wie rüstig bin ich, wie war er es, als ihm das gleiche Maß an Zeit gegeben war?
Die Vorliebe für das Leben des Meisters ließ sein Werk zurücktreten. 1884 beklagte Gottfried Keller "eine Art Muckertum im Goethekultus". Zwar werde jedes Gespräch durch den "geweihten Namen beherrscht, jede neue Publikation über Goethe beklatscht - er selbst aber nicht mehr gelesen, weshalb man auch die Werke nicht mehr kennt, die Kenntnis nicht mehr fortbildet." Er nistete sich im Gemüt der Deutschen ein, wofür Hamacher sehr anschauliche Worte findet: "Goethe lebte in vielen bürgerlichen Haushalten gleichsam zur Untermiete, man wusste, was er geschrieben hatte, und lebte damit. Doch eigentlich lebte man nicht mit ihm und seinen Werken, sondern mit den eigenen Vorstellungen, die man sich davon bildete, den Vermutungen, wie sein Gesicht wohl ausgesehen und was er draußen in der Welt erblickt habe, was seine Weltansicht in ganz wörtlichem Sinne gewesen sein mochte."
|