Vom 7. bis zum 16. September ist Goethe in Tübingen, dann noch einmal vom 29. Oktober bis zum 1. November. Er wohnt beim Verleger Cotta. Er besichtigt das Schloss (wo zu meiner Studienzeit das Völkerkundliche Institut untergebracht war) und die Stiftskirche, über deren Glasfenster er einen Aufsatz schreibt. Er spricht mit Professoren. Tübingen gefällt ihm nicht. An Christiane schreibt er: "Die Stadt selbst ist abscheulich, allein man darf nur wenige Schritte tun, um die schönste Gegend zu sehen."
Am 11. September 1797 erhält er in Tübingen die Nachricht vom Staatsstreich des 4. September, dem 18. Fructidor nach der Rechnung der Französischen Revolution, bei der unter Beteiligung Napoleon Bonapartes das Direktorium den Einfluss der Royalisten innerhalb der Regierung und des Parlaments zurückdrängt; die misstrauisch als Feinde der Revolution Beäugten waren kürzlich in Wahlen erfolgreich gewesen. Eine verstärkte Polemik gegen die katholische Kirche war die Folge, das Läuten der Kirchturmglocken verboten. Um es auf eine gedächtnisfreundliche Formel zu bringen: Das Direktorium war eine gemäßigte Regierung, die sich zwar nicht entschließen mochte, die Demokratie abzuschaffen, aber den Wählerwillen kassierte, wenn er zu sehr nach links oder rechts ausschlug. Ihr militärischer Arm war Napoleon Bonaparte. Er blieb es, bis es ihm mit Hilfe zweier ehemaliger Mitglieder des Direktoriums gelang, eben dieses Direktorium gegen das Konsulat zu ersetzen und sich selbst zum starken Mann Frankreichs zu machen. Aber dies sind dann bereits Ereignisse vom November 1799, zwei Jahre nachdem Goethe über Tübingen schimpfte.
Seit April 1797 kontrollierten französische Truppen unter Napoleon Bonaparte in Italien die gesamte Po-Ebene einschließlich Bolognas. In Norditalien förderte Frankreich die Entstehung von Republiken unter gemäßigter Führung. So die Gründung der Cispadanischen Republik in Modena im März 1797, die sich im Juli mit der Cisalpinischen Republik vereinigte, die den größten Teil der Lombardei umfasste.
Napoleons Marsch auf Wien wurde nur durch die Verhandlungsbereitschaft der Habsburger gestoppt. In Leoben traten die Unterhändler zusammen. Mit dem Friedensvertrag von Campo Formio vom 17. Oktober 1797 - Goethe befand sich in der Schweiz - verscherzte sich Napoleon die Sympathien des Direktoriums, und die Franzosen die Sympathien der italienischen Revoluzzer, denn Frankreich gab Venetien an ein Habsburger Reich ab, das nur vorläufig besiegt war. Die achthundertjährige Geschichte der Serenissima als Adelsrepublik war bereits am 12. Mai 1797 mit der Absetzung des letzten Dogen Ludovico Manin beendet worden. Papst und Kirchenstaat geht es im Februar 1798 an den Kragen.
Die Installation und häufige Umgestaltung liberaler Regierungen in Norditalien durch die Franzosen offenbarte deren strategische Gesinnung, nicht das Bestreben, die Ideale der französischen Revolution zu verbreiten. Im November des Jahres führte Napoleon das Heer nach Ägypten, weshalb er zunächst das Interesse an Italien verlor. Das Geld für den Feldzug stammte übrigens größtenteils aus dem geplünderten Staatsschatz Berns, der den Franzosen vier Monate nach Beginn des Feldzugs im März 1798 angelegentlich der Neuordnung der Schweiz in die Hände fiel. Der Kampf gegen England stand nun im Vordergrund und Napoleon sollte in Ägypten und im heutigen Syrien seine erste große Niederlage erleiden, die seinen Aufstieg allerdings nur für die kürzeste Zeit bremste.
"Kriegsläufte" ließen es Goethe 1797 nicht ratsam erscheinen, von der Schweiz aus nach Italien zu gehen. Gervinus setzt in seiner Schrift "Über den Goetheschen Briefwechsel" das Jahr 1797 als Wendepunkt zum Spätwerk des Meisters. Eine Achsenzeit nicht nur der Moderne, sondern auch im Leben Goethes. Italien, als prägender Eindruck zuerst in der Vorstellung des Kindes gebildet nach den Erzählungen des Vaters, dann im eigenen Erleben als Interludium, nachdem er sich aus Weimar davongestohlen, sollte er, der so großes Verlangen nach dem Schließen der Kreise empfand, die er in seinem Leben geformt hatte, nicht mehr zu Gesicht bekommen.
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