Stillleben mit Wecker des Goethe-Zentrums Qingdao und west-östlichem Sofakissen
(Foto: Matthias Mersch)
Als meine Großmutter geboren wurde, war Goethe 58 Jahre tot. Zwischen ihren Leben liegen gerade einmal zwei Generationen oder die Zeit von unserer Gegenwart zurück ins Jahr 1954, als meine Schwiegermutter aus der vormals deutschen Stadt Qingdao (Tsingtau) in China mit der Eisenbahn nach Leipzig reiste, um ihr Studium in der DDR aufzunehmen.
Die Stiftskirche liegt direkt neben der Alten Burse, dem ältesten Gebäude der Universität Tübingen. Ich sollte es in Zukunft regelmäßig betreten, denn darin untergebracht war das religionswissenschaftliche Seminar, dessen Gegenstand ich im Nebenfach studierte. Auf der Straßenseite gegenüber ist das ehemalige Revier der Stadtpolizei, nach der Überlieferung studentischer Folklore ausgerechnet dies das erste Haus in Tübingen, das - leerstehend und in baufälligem Zustand - das Objekt einer Hausbesetzung geworden war.
Freundschaftliche Verbindungen zu einer Kommilitonin der Völkerkunde - als Tochter einer Schwäbin und eines Briten im kolonialen Singapur geboren - führten mich bald in die Wohngemeinschaft, die sich dort eingerichtet hatte und erst neulich vom Studentenwerk legalisiert und mit einem Mietvertrag versehen worden war.
Den Studenten, die als Libertins im Polizeirevier hausten, rief sich das christliche Abendland ins Gedächtnis durch die Uhr im Turm der Stiftskirche. Die Kraft ihres Werkes übertrug sich im Viertelstundentakt in einen mächtigen Glockenschlag. Dem dort nur gelegentlich Nächtigenden, der ich war, raubte die Nähe zur Kirche den Schlaf.
Die Bewohner des Hauses hatten ein liebevoll gestaltetes Pappschild, dessen Aussehen eine fein geäderte Marmorplatte imitierte, an der Außenwand des Gebäudes angebracht. Das Schild hatte das Format jener weitverbreiteten Memoriale, die seit dem Zeitalter des Historismus an Leben und Taten großer Männer der Vergangenheit erinnern und diese in Bezug zum jeweiligen Ort setzen. Auf dem Schild stand zu lesen: "Hier kotzte Goethe". Das sah ich im 150. Jahr nach seinem Tode.
Goethe besuchte Tübingen zweimal auf seiner dritten Reise in die Schweiz in der zweiten Jahreshälfte 1797. Einmal auf dem Hinweg, das andere Mal auf dem Rückweg. Zu Beginn seiner Reise, wenige Tage vor seinem 48. Geburtstag, trifft er in der Stadt seiner Geburt, Frankfurt am Main, den damals dort ansässigen Hölderlin. Der hatte in Tübingen studiert, sich in Frankfurt auf Vermittlung Schillers als Hofmeister verdingt und in die Ehefrau seines Arbeitgebers verliebt. Später sollte er die letzten 36 Jahre seines Lebens in Tübingen verbringen. Ob in geistiger Verwirrung oder als Jakobiner, der sich als Irrer tarnte, wurde in meiner Jugend diskutiert. Heute hält man ihn wieder für verwirrt. Er starb elf Jahre nach Goethe.
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