04-11-2014
Kultur und Kunst
Die Nachtigall - ein französischer Regisseur erzählt von China

Am 3. März 2014 präsentiert sich das Produktionsteam des Films „Die Nachtigall" bei einem Filmfestival vor den Zuschauern in der französischen Stadt Deauville.  

Es scheint, als würden viele Leute im Westen China durch ein Teleskop oder getöntes Glas betrachten, doch nun bietet der französische Regisseur Philippe Muyl ihnen eine Alternative: Entweder sie gehen nach China, oder sie schauen sich seinen neuen Film „Die Nachtigall" an.

„Wir haben international noch immer das Problem, dass China vielen Menschen unbekannt ist", so Muyl. „Es herrschen leider einfach Missverständnisse. In Frankreich spricht man jeden Tag über China, doch nur wenige Franzosen würden dorthin gehen. Sie wissen gar nichts von China, nur das, was sie im Fernsehen sehen – und das sind leider meistens die negativen Dinge, z.B. Luftverschmutzung."

Was Muyl selber betrifft, so hatte er vor seiner Reise nach China und vor seinem Filmdreh das Gefühl, wenn er jetzt nicht nach China ginge und das Land erkundete, dann wäre es danach zu spät. Bei seiner Ankunft in China hatte er den Eindruck, dass das Land ganz anders war, als er es aus der negativen Berichterstattung kannte. Er fühlte sich verpflichtet, das „wahre" China zu beschreiben und einzufangen, um es der Welt zu zeigen.

 

Eine Reise nach Hause

"Die Nachtigall" erzählt eine simple, aber rührende Geschichte. Darin beschließt ein alter Mann, ein altes Versprechen einzulösen und reist zusammen mit einem 18 Jahre alten Papagei in seinen Heimatort. Da sein Sohn und seine Schwiegertochter gerade beruflich unterwegs sind, sieht er sich gezwungen, seine acht Jahre alte Enkelin mitzunehmen. Vor einer Kulisse einzigartig schöner chinesische Städte und Dörfer zeigt der Film, wie der alte Mann und seine Enkelin, die sich anfangs kaum verstehen, sich im Laufe der Zeit immer mehr annähern. Zum Ende des Films hin ist das einst verwöhnte Kind völlig verwandelt und die gesamte Familie hat sich durch die Reise der beiden grundlegend verändert.

Was der Regisseur Muyil in China sieht, ist ein weltweites Phänomen: Wir verbringen unser Leben in halsbrecherischer Geschwindigkeit. Die Beschleunigung des Lebens und der hektische Rhythmus unseres Alltags setzen die Menschen unter immer größeren Druck. Viele Leute und Familien kommen durch ihr stressiges und rasantes Leben aus der Balance. In „Die Nachtigall" nehmen die hektischen Eltern ihr Zuhause mit sich auf Reisen, sozusagen mit ins Flugzeug. So werden sich die Mitglieder einer Familie schnell fremd und die Familie besteht nur noch dem gemeinsamen Namen nach. Am schlimmsten sind natürlich die Auswirkungen, die diese rasche Lebensweise auf die persönliche und psychologische Entwicklung der Kinder hat.

Glücklicherweise lösen die Liebe und Sorge um die Familie im Film alle Missverständnisse, Entfremdungen und Krisen auf. Der Verlauf des Plots entspringt nicht etwa einer halbherzigen Arbeit des Regisseurs, sondern eher der Logik der menschlichen Gefühle. Das Mitgefühl für andere Menschen, Familienmitglieder oder sogar Tiere (sagen wir mal ein Papagei) bringe uns dazu, die Reise in „Die Nachtigall" bis ganz zum Ende mit durchzustehen, wie schwer diese auch sein mag, so Ning Ning, die Produzentin des Films.

 

Auf nach China

Um seinen Film „Die Nachtigall" zu drehen, zog Muyl nach China und lernte anderthalb Jahre lang Chinesisch; er schrieb sogar ein Tagebuch in Pinyin-Schrift. „Es fällt einem viel leichter, eine Kultur zu verstehen, indem man die Sprache lernt", sagt er. „Wenn man lange Zeit in einem fremden Land wohnt, muss man die dortige Sprache zumindest ein bisschen beherrschen. Und das allein schon aus Höflichkeit und Respekt".

In China gilt Muyl zwar als Newcomer, dennoch kennen ihn viele Chinesen seit längerem durch seinen Film „Der Schmetterling", den viele nach seinem Erscheinen im Jahre 2002 auf VCD, DVD oder im Internet gesehen hatten. Ein 2006 auf der Spring Festival Gala des nationalen Fernsehsenders CCTV präsentierter Song wurde damals sogar als Kopie der Titelmusik des Films erkannt und öffentlich kritisiert.

Nach dem Erfolg des Films „Der Schmetterling" waren die Erwartungen vieler Chinesen in Bezug auf „Die Nachtigall" hoch. Als erste Ausschnitte des Films in den Kinos zu sehen waren, waren diese bis auf den letzten Platz besetzt. Der Film wurde bei der Eröffnung des 21. Beijing Student Film Festival im April 2014 ausgestrahlt und zog viele Fans des Regisseurs in die Kinos.

Auch Ning war begeistert von „Der Schmetterling". Für sie ist der Film der Inbegriff der Schönheit – die Szenen sind wunderschön und die Kinematographie exzellent. Es ist ein Film für Jung und Alt gleichermaßen.

Tatsächlich dachte sie aufgrund dieses Films über eine Kooperation mit Muyl nach. Obwohl sie aus ganz unterschiedlichen Ländern kommen, fanden Ning und Muyl bei einem Treffen schnell heraus, dass sie gemeinsame Ideen über filmische Ästhetik hatten.

Ning war einst ein Kinderstar und machte Karriere in den goldenen Zeiten des chinesischen Kinos. Von 1980 bis 1986 war sie Mitglied der Galaxy Children's Art Troup von CCTV. Sie lernte Schauspielen und Singen und spielte in Fernsehsendungen und Dramen mit. Doch es war die Rolle in der chinesischen Fernsehserie „Geschichten aus der Redaktionsleitung" (mit dem in Cannes preisgekrönten Schauspieler Ge You in einer Hauptrolle), in der Ning eine clevere Quasselstrippe spielte, die sie ins Rampenlicht brachte.

An einem Tag im April 2014 trafen Ning und Ge sich bei einer Veranstaltung in Beijing. Ge wurde dort von der französischen Filmförderungsbehörde, dem Centre national du cinéma et de l'image animée, mit dem Ritterorden der Künste und der Literatur ausgezeichnet, der jährlich an herausragende Personen des kulturellen Lebens vergeben wird. Obwohl sie während der letzten 24 Jahre häufig in gemeinsamen Filmen gespielt hatten, war Ge erfreut und überrascht zu hören, dass Ning eine unabhängige Produzentin geworden war.

Ning war lange Zeit Moderatorin der Film- und Fernsehvorschau gewesen, einer Sendung der Changhai Media Group. Darüber hinaus hatte sie mehrere Wirtschafts- und Finanzsendungen, Kindersendungen und Sendungen zu den Themen Kunst und Literatur für CCTV, Beijing Television und das in Macao ansässige Medienunternehmen Five-Star Television moderiert. Noch bevor die Mikrofilmtechnik existierte, produzierte Ning ein Programm, das kurze TV-Dramen zeigte. Als sie zu dieser Zeit ihre Zulassung für die Peking-Universität erhielt, studierte sie dort Marketing und Neue Medien. Nach ihrem Abschluss gründete sie dann Envision Films, das „Die Nachtigall" mitproduzierte.

All das ermöglichte es ihr, sich eine stabile Grundlage als unabhängige Produzentin aufzubauen.

"Ich hatte das Glück, kompetente Lehrer und gute Freunde zu haben", sagt Ning. „Durch sie habe ich begriffen, dass Film und Fernsehen sich nach den Erwartungen der Zuschauer richten sollten und somit der Gesellschaft förderlich sind." Mit dieser Philosophie im Herzen schaute sich Ning auf dem Markt um und lud schließlich Muyl nach China ein, um dort mit ihm einen qualitativ hochwertigen und positiven Film zu drehen, den für chinesische wie nicht-chinesische Familien geeignet sein sollte.

"Der Grund, weshalb ich Muyl als Regisseur ausgesucht habe, um einen chinesischen Film zu drehen, ist vor allem der Erfolg von „Der Schmetterling"", so Ning. Der Film war ein Kinohit und wurde von der chinesischen Internetgemeinde und den DVD-Käufern hoch gelobt. Was Ning besonders berührt, ist die Eltern-Kind Thematik. Ihrer Meinung nach gibt es einen sehr großen Markt für solche herzerwärmenden Filme, sowohl in Chin als auch international.

Ning, die selber Mutter von zwei Kindern ist, entwarf und produzierte zusammen mit CCTVs Kinderkanal im Jahr 2008 die TV-Sendung Happy Coach, die sich hoher Einschaltquoten erfreut. Durch ihre eigenen Erfahrungen tendiert Ning dazu, Dramen zu entwerfen, die Eltern-Kind- Beziehungen zum Gegenstand haben. „Als ich Happy Coach drehte, spürte ich, dass Filme und Fernsehserien um das Thema Kinder großes kommerzielles Potential haben", sagt sie. „Solche Formate sind für Familien geeignet und schaffen das Bedürfnis nach verschiedenen Nebenprodukten". Tatsächlich hat in den letzten zwei Jahren die positive Resonanz der chinesischen Zuschauer auf die Eltern- und-Kind Realityshow „Where Are We Going, Dad?" ihre Einschätzung bestätigt.

"Wenn man sich entsprechend Mühe gibt, wird der Film von vielen gesehen und nicht nur für Kinder und Eltern interessant sein", sagt Ning. Sie betont, dass die Qualität eines Films wichtiger ist als sein Thema. Ihrer Meinung nach gibt es in China nur wenige beeindruckende Filme über Kinder und ihre Eltern, viele seien einfach nicht gut gemacht. Was die Belichtung und Farbtechnik angeht, befänden sich chinesische Filme noch immer weit unter internationalem Standard.

„Es ist nicht hilfreich für die körperliche und seelische Entwicklung von Kindern, wenn sie keine schönen und qualitativ hochwertigen Dinge sehen", meint Ning. „Glücklicherweise widmet Philippe Muyl der Qualität unserer Arbeit ebenso viel Aufmerksamkeit wie ich".

 

Ein gemeinsames Projekt

Im Jahr 2010 unterzeichneten China und Frankreich gemeinsam in Beijing eine Vereinbarung über gemeinsame Filmprojekte. Ning entschied, dass die Zeit reif war, etwas zu tun. Im Mai 2012 flog sie nach Cannes, um einen Kooperationsvertrag für die Produktion von „Die Nachtigall" zu unterzeichnen.

"China hat mit vielen Ländern Verträge für gemeinsame Filmprojekte unterschrieben", sagt Ning. Filme, die so produziert werden, gelten in beiden Ländern dann als Heimatproduktion. Sie werden weder durch Importquoten begrenzt, noch zählen sie als importierte Filme, deren Einspielerträge auf mehrere Parteien aufgeteilt werden müssen. Das vereinfacht den Vertrieb der Filme und garantiert wirtschaftlichen Profit für alle beteiligten Kooperationspartner. Chinas Filmindustrie ändert sich gerade grundlegend. In der Vergangenheit waren es nur staatliche Filmstudios, die Filme in China produzierten. Nun ist es möglich, mit ausländischen Institutionen in Bezug auf Geldmittel, Mitarbeiter, Techniken und Märkte zusammenzuarbeiten und eine größere Bandbreite an Themen abzudecken.

Zwar geht die gemeinsame Produktion von chinesischen und ausländischen Filmen bis auf das zwanzigste Jahrhundert zurück,  Für eine reibungslose Zusammenarbeit müssen französische und chinesische Filmemacher die jeweils andere Kultur und ihre Bräuche beachten. Ning ist der Ansicht, dass die Arbeit auf professionellen und internationalen Standards beruhen sollte. Aber sie sagt auch, dass man darüber hinaus nicht die große Gastfreundschaft vergessen dürfe, die China seinen Gästen entgegen bringt. Da sie mit einem Franzosen verheiratet ist und darüber hinaus zwei Restaurants in Beijing besitzt, weiß sie sehr wohl, wie sie sich um die französischen Gäste kümmern muss.

Muyl richtet sich gerne nach den Gepflogenheiten seiner Gastgeber. Der französische Regisseur, der ein starkes Interesse an China hat, betont, dass der Erfolg von „Die Nachtigall" der Arbeit des gesamten Teams und der engen Zusammenarbeit beider Parteien zu verdanken ist. Er spricht von der Hilfe, die er von chinesischen Schauspielern erhalten hat. „Von ihnen habe ich Bescheidenheit gelernt", sagt er. „Ein Regisseur, der einen Film in einem fremden Land dreht, muss zuerst ein guter Journalist sein. Er muss dauern Fragen stellen. China ist ein interessantes und vielfältiges Land, es braucht Zeit, um es zu verstehen und sich ihm zu nähern".

Die Dreharbeiten zu „Die Nachtigall" wurden 2013 beendet. Seine Einspielerträge betrugen in China fast 20 Milliarden Yuan (3,25 Milliarden Dollar). Die Einspielergebnisse chinesischer Filme haben in den letzten Jahren um jährlich 30 Prozent zugelegt. Bedenkt man den jährlichen Anstieg der Produktion von 5 bis 10 Prozent, ist das beeindruckend. Es bedeutet, dass chinesische Filme beginnen, Zuschauer aus aller Welt anzuziehen. Die Dinge würden besser, sagt Ning.

Natürlich erzielt „Die Nachtigall" noch immer Einnahmen. Letzten März wurde der Film in Frankreich ausgestrahlt und vom Publikum wie erwartet positiv aufgenommen. Seine Einnahmen übertrafen sogar die des Hollywood-Blockbusters „Sabotage" mit Arnold Schwarzenegger, der zeitgleich lief, und andere Konkurrenzfilme. Während seiner einmonatigen Ausstrahlung erhielt der Film von 14 der bedeutendsten französischen Medienanstalten eine durchschnittliche Bewertung von 3,4 von 5 möglichen Punkten und vom Publikum eine Bewertung von 4,1 Punkten. "Die Nachtigall" ist als Small-Budget-Film der erste chinesische, nicht-kommerzielle Film geworden, der ein so großes Publikum angelockt hat.

In den USA gewann „Die Nachtigall" auf dem 16. internationalen River Run Filmfestival den Publikumspreis. Beim 54. internationalen Filmfestival für Kinder und Jugendliche in Tschechien gewann der Film den „Goldenen Hausschuh", den Hauptpreis für den besten nominierten Film. 2014 war "Die Nachtigall" war darüber hinaus beim Internationalen Filmfestival von Shanghai  als bester Film sowie in vier anderen Kategorien nominiert. Am Ende wurde der Schauspieler Li Baotian, mit dem Regisseur Muyl unbedingt arbeiten wollte, bei dem Festival mit einem Preis für seine darstellerische Leistung ausgezeichnet.

„Dabei habe ich eine sehr ursprüngliche, chinesische Geschichte erzählt", sagt Muyl. „Alle Schauspieler und das gesamte Drehbuch sind chinesisch. Ich habe allerdings eine Erzählweise gewählt, die dem westlichen Publikum zugänglicher ist, damit sie die Geschichte verstehen."