Liu Jin (m.) dolmetscht in einer Autofabrik für eine Gruppe von Chinesen.
Anfang Juli begleitete Liu Jin eine Gruppe von Chinesen bei ihrer Besichtigungstour durch deutsche Unternehmen als Dolmetscherin. Sie war sehr glücklich, weil sie direkt nach dem Abschluss ihres Dolmetscherstudiums ihrem Traumjob nachgehen konnte. Schon Anfang Juni flog sie nach Deutschland, obwohl sie damals noch gar keinen offiziellen Studienabschluss hatte. Auch wenn sie ihre Abwesenheit von der Abschlussfeier bedauerte, beruhigte sie der Gedanke, dass ein toller Job auf sie wartete.
Im Jahr 2001 wurde das deutsch-chinesische Berufsbildungsabkommen ins Leben gerufen, um Austausch und Zusammenarbeit zu fördern und in China die Qualität und das Ansehen einer Berufsausbildung zu verbessern. Diese Politik hat nicht nur zu einer schnelleren Entwicklung der beruflichen Bildung in China beigetragen, sondern auch die Nachfrage nach Übersetzungen ins Deutsche erhöht, vor allem der Bedarf an Dolmetschern ist gestiegen. Für Germanistikstudenten bietet dies gute Chancen auf einen Job.
Im Rahmen des Berufsbildungsabkommens entstand am 1. Dezember 2012 auch das Projekt "Sino-German Automotive Qualification and Certification Center (SGAQCC)" in Chongqing. Sein Ziel ist der Aufbau eines Qualifizierungszentrums für Berufsschullehrer, die im Rahmen der Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker tätig sind.
Liu Jin dolmetschte dort sechs Monate bei der Ausbildung der dritten Gruppe von 17 chinesischen Berufsschullehrern. Jeden Tag übersetzte sie fachspezifische Unterrichtsthemen wie Motorentechnik oder Bremssysteme, eine sehr anspruchsvolle Aufgabe für Liu Jin, da sie in diesen Bereichen keine Vorkenntnisse hatte. Nach täglich sechs Stunden Dolmetschen musste sie zusätzlich für den nächsten Tag zahlreiche Fachbegriffe lernen und den chinesischen Lehrern im Alltag helfen. „Ich liebe diese Arbeit immer noch", sagt sie, obwohl sie sehr anstrengend und die Inhalte schwierig waren.
Dolmetschen ist eine anspruchsvolle Tätigkeit. Sie glaubt, dass sie wegen ihrer Vorerfahrungen die Chance dazu bekam. Liu Jin ließ keine Gelegenheit aus, ihr Wissen in der Praxis zu testen. Neben ihrem Dolmetscherstudium machte sie auch Übersetzungen. Im September 2014 erhielt sie als frisch eingeschriebene Studentin einen Übersetzungsauftrag von Hans Feger, Philosophieprofessor an der Freien Universität Berlin. Ihre Übersetzung erschien ihr als ein Misserfolg, weil sie sich nur wenig mit Philosophie auskannte und der Artikel viel Vorwissen erforderte. „Auch nach der Übersetzung habe ich den Text nicht verstanden", erzählt sie, sie sei sich dadurch aber ihrer Schwächen bewusst geworden. Danach beschäftigt sie sich mit der Übersetzung von offiziellen politischen Dokumenten, ein Bereich, der ihr vertraut war. Für ihre erfolgreichste Übersetzung hält sie die bereits veröffentlichten Comics von Feng Zikai.
Neben einigen kleineren Arbeiten hat Liu Jin auch schon größere Dolmetscher-Aufträge angenommen, für ein Privatunternehmen dolmetschte sie zum Thema Altöl-Recycling und im Chongqing Three Gorges Medical College im Rahmen einer Berufsausbildung im Bereich Pflegepädagogik. Diese Berufserfahrungen verschafften ihr gegenüber anderen Arbeitssuchenden eine Menge Vorteile.
Schon vor dem Studium war Liu Jin außerdem als Au-Pair in Deutschland. Das war zu dieser Zeit noch ungewöhnlich für eine Chinesin, viele Leute hätten ihr Verhalten nicht verstanden, sagt sie. Aber ihr Ziel war es, voranzukommen. Der Aufenthalt in Deutschland hat sich für sie gelohnt. Denn nicht nur ihre Sprachkenntnisse verbesserten sich, sondern auch ihre Persönlichkeit und ihre Einstellung zum Leben hätten sich grundlegend geändert, berichtet sie.
„Meine Jobsuche ist anders verlaufen als bei den meisten anderen Uniabsolventen", sagt sie. Sie fand von Anfang an die richtige Stelle und hat ihre Chancen genutzt. Für die Zukunft wünscht sie sich, auch nach ihrer Rückkehr nach China wieder einen Job als Dolmetscherin zu finden.
Anders als Liu Jin musste Shen Yang, ihre Mitbewohnerin aus dem Studentenwohnheim, eine harte Zeit durchstehen, bis sie am Ende einen befriedigenden Job fand. Sie studierte im Hauptfach Übersetzen, aber auch das Staatsexamen für Beamte war ihr sehr wichtig, deshalb konzentrierte sie sich nicht allein auf die Germanistik.
Shen Yang hatte es bei der Berufsfindung weniger leicht.
Das Staatsexamen ist anspruchsvoll, auch wer ausgiebig lernt, hat keine Garantie auf eine hohe Punktzahl. Und die unangenehme Wahrheit ist: Es gibt nur sehr wenig Stellen, die mit Deutsch zu tun haben. Sie habe sich zunächst nur auf diese Prüfung konzentriert, sagt Shen Yang, aber eines Tages sah sie Stellenangebote von Banken, die nach Mitarbeitern mit selteneren Fremdsprachenkenntnissen suchten. Sie bewarb sich und war einigermaßen zuversichtlich, angenommen zu werden, weil sie als Wahlfach zusätzlich Wirtschaftswissenschaften studiert hatte. Bis Ende 2014 war Shen Yang dann hauptsächlich mit unterschiedlichen Prüfungen beschäftigt.
Das Jahr 2015 begann für sie mit sehr gemischten Erfahrungen. Sie erlebte viele Niederlagen, so bestand sie auch das Staatsexamen nicht. Wie viele andere Uniabsolventen stellte Shen Yang ihren Lebenslauf hoffnungsvoll ins Internet. Während sie vorher kleine Unternehmen nicht interessiert hatten, bekam sie jetzt nicht einmal dort ein Vorstellungsgespräch. Den Grund für ihren Misserfolg sieht sie in ihren mittelprächtigen Deutschkenntnissen und fehlenden Zusatzqualifikationen. Nach Vorstellungsgesprächen bei mehreren Unternehmen entschied sich Shen Yang schließlich, vorläufig als Lehrerin in Nanjing zu arbeiten, bis sich eine bessere Möglichkeit bieten würde.
Doch einen Monat später hatte sie Glück. Sie erhielt eine Zusage der Bank, ihre Jobsuche hatte also doch noch ein Happy End. Wenn sie sich heute zurückerinnert, ist sie zufrieden, obwohl das Endergebnis nicht ihren ursprünglichen Berufsplänen entspricht.
Liu Jin und Shen Yang sind nur zwei Germanistikabsolventen in China. Ihre Erfahrungen sind aber typisch für die Situation nach dem Studium. Während sich Liu Jin entschied, weiterhin ihre Karriere als Dolmetscherin zu verfolgen, hat Shen Yang einen anderen Weg gewählt. Es fehle nicht an Möglichkeiten, vielleicht komme es vor allem darauf an, einen eigenen Weg zu gehen, meint sie. „Jeder hat selbst die Wahl."
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