14-08-2014
China Reportage
Gespenstische Stille in Beijing
von Nina Romming

Mitten in der Innenstadt Bejings stehen zwei Villen, in denen es spuken soll. Ein chinesischer Horrorfilm hat die Häuser an der Chaoyangmennei berühmt gemacht. Heute pilgern täglich hunderte Touristen zu den Toren des Anwesens, doch hinein können sie nicht.

Gegen den Himmel zeichnet sich nachts der Turm der ehemaligen Kirche ab.

Teile des Hauses sind mit Efeu überwachsen

Dieser stille Ort liegt an der viel befahrenen Chaoyangmennei in Beijing. (Fotos: Nina Romming)

Kolosse aus Stahl und Glas spiegeln stumm das gleißende Sonnenlicht auf die Menschen hinab, die sich wie Ameisen zu ihren Füßen tummeln. An jeder Seite der Chaoyangmennei erheben sich die kalten Wolkenkratzer der modernen Geschäftswelt Chinas. Die Straße ist vier-, teils sechsspurig ausgebaut und führt durch den Osten Bejings. Ein Fußgänger riskiert sein Leben, wenn er versucht, sich durch die hupenden Kleinwagen und Taxis, die Busse, die drängelnden Lastwagen, die Motorroller und Fahrräder auf die andere Seite zu schlängeln. Der Lärm ist betäubend, so laut, dass man sein eigenes Wort nicht versteht.

Diese Straße ist in Bejing nichts Besonderes. Es gibt zigtausend andere Straßenzüge in der Multimillionen-Stadt, die dieser haargenau gleichen. Trotzdem strömen täglich hunderte von Touristen zu der Chaoyangmennei, genauer, zur Hausnummer 81. Sie bleiben vor einem Ort stehen, der entrückt wirkt, für Bejinger Verhältnisse uralt und merkwürdig still ist. Die Hausnummer 81. Vor dem wuchtigen Eisentor hat sich ein Grüppchen Touristen versammelt. Das Tor ist durch eine schwergliedrige Kette verriegelt. Das Anwesen ist von einer hohen grauen Mauer umgeben, die von Rissen zerfressen ist und an einigen Stellen nur noch von stützenden Balken aufrecht gehalten wird. Hier stehen zwei große Villen. Die Adresse ist schon lange unter Beijinger Abenteurern bekannt, aber erst durch einen Thriller, der im Juli dieses Jahres in die Kinos gekommen ist, ist sie auch außerhalb der Stadtgrenzen berühmt geworden. Der Thriller namens „京城 81号"(engl.Titel: „The House that never dies") erzählt die Geschichte einer Frau, die durch ihre bloße Anwesenheit die Geister des Hauses aus ihren Verstecken lockt. Der Streifen hat am Eröffnungstag mehr Geld eingespielt als je ein chinesischsprachiger Horrorfilm zuvor. Den Stoff für die Geschichte und den Schauplatz hat die Hausnummer 81 der Chaoyangmennei geliefert. Die Kinobesucher wollen diesen geheimnisvollen Ort mit eigenen Augen sehen; den Ort, an dem es seit Jahrzehnten spuken soll. So auch Sandy Guan, eine Studentin aus Peking, die mit ihrem Ehemann vor dem Tor steht. „Durch den Film bin ich auf diesen Ort aufmerksam geworden und habe im Internet nachgeguckt, wie man hierher kommt.", sagt die 24-Jährige. Die Spukgeschichten, die sich um dieses Anwesen ranken kennt sie, aber die Frage, ob sie denn an Geister glaube, verneint sie lachend.

Die Menschen spähen neugierig durch die Spalte zwischen den Torflügeln. Im Hof hinter dem Tor stehen Autos in Reih und Glied, hinter ihnen erheben sich - wie alte, ehrwürdige Kavaliere – zwei barocke Herrenhäuser. Sie wurden im Jahr 1900 von Beamten der Qing-Dynastie für englische Bewohner Bejings erbaut. Ursprünglich als Kirche gedacht, wurden die Gebäude ab 1910 von einer chinesischen Sprachschule für amerikanische Priester genutzt. Im Jahr 1930 sollte der nun „Kalifornien-Institut" genannte Komplex Studenten anlocken und sie mit der Sprache, der Kultur und den Handelsgepflogenheiten Chinas vertraut machen, bevor sie das Land der Mitte bereisten. Heute liegen die leeren Fensterrahmen der dreistöckigen Häuser wie Augenhöhlen tief und dunkel in den verwucherten Gemäuern. Keine Menschenseele ist zu sehen. Die Hälfte des gelben Gesteins ist von Efeu umwachsen. Man sieht die Deckenbalken durch die Fensteröffnungen schimmern. Auf zwei mit Tesafilm am Tor befestigten Anschlägen liest man:„[...]Seit zehn Jahren verfällt das Haus und der Dielenboden ist stark beschädigt. Hineinzugehen ist dadurch sehr gefährlich.[...] Bitte sehen Sie davon ab, in die Häuser hineinzugehen. Unerlaubtes Betreten geschieht auf eigene Verantwortung.", mahnt die Patriotisch-Katholische Gemeinschaft Beijings, die seit 1995 das Grundstück besitzt. Sie behauptet, dass die Geschichten über das „Geisterhaus" reine Gerüchte seien.

Bei diesen Gerüchten handelt es sich um Geschichten, die sich die Bewohner der Umgebung seit Jahrzehnten erzählen und die mit den Jahren immer zahlreicher und fantasievoller geworden sind. Einige besagen, dass bei Renovierungsarbeiten an den Häusern über Nacht Bauarbeiter spurlos verschwanden, und andere, dass bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts ein Priester verloren ging und statt ihm nur ein kilometerlanger Tunnel unter den Gemäuern gefunden wurde,der bis zum Tuanjiehu- Park im Osten der Stadt geführt haben soll. Auch Sandy Guan kennt diese Geschichten. „Hier werden oft Filme gedreht und die Menschen, die hier vorbeigehen, sehen dann seltsame Lichter in den Fenstern und hören Geräusche. Ich glaube, daher kommt es, dass die Leute denken, dass es hier spukt.", sagt sie. Die am meisten zitierte Legende ist die einer Geliebten eines Goumindang-Offiziers, der nach Ende des Bürgerkriegs nach Taiwan floh und sie in Peking zurückließ. In dem weiter im Osten gelegenen Haus erhängte sie sich. Ihre Schreie sollen noch in stürmischen Nächten oder bei Vollmond in den Häusern zu hören sein. „Wenn diese Geschichte wahr ist, dann hat sie sich bestimmt in einem Zimmer im dritten Stockwerk umgebracht. Da hat sich der Luftdruck geändert oder so etwas. Jedenfalls habe ich dort etwas gespürt", lacht Joseph Halvorson, amerikanischer Journalist, der in Bejing arbeitet. Der 28-jährige war bereits vor dem großen Hype um Chaoyangmennei 81 in den zwei Gebäuden unterwegs. In seiner Heimatstadt in den Vereinigten Staaten ist er viele Male in solche verlassenen Häuser eingestiegen und hat Fotos gemacht. Auch in Chaoyangmennei 81 ist er am helllichten Tag auf das Grundstück spaziert, hat sich umgesehen und fotografiert. Niemand hat ihn beachtet. „Ich fand das andere Haus viel gefährlicher. Ein riesiges Loch hat im Boden geklafft. Da konnte man gleich bis in den Keller gucken", weiß er zu berichten. Die Stufen haben unter seinen Schritten geknirscht und gequietscht, trotzdem ist er die Treppe alle Stockwerke hochgekraxelt.

Noch vor zwei Wochen hat Joseph beobachtet, wie am Abend Grusel-Touristen in Zehner-Gruppen in die Häuser gelassen wurden und mit ihren Taschenlampen für einige Zeit die Villen bevölkerten.

Heute machen sich ein paar der Touristen von dem verschlossenen Tor aus auf, die Umgebung zu erkunden. Zunächst laufen sie linksherum an der Mauer entlang. Die jungen Chinesen versuchen, überall hochzuklettern und auf die andere Seite zu sehen. Durch einen Spalt kann man einen Blick auf die Rückseite der Häuser erhaschen. Jemand hat die Fenster der unteren Stockwerke sorgfältig mit Brettern zugenagelt. Backsteine und Sand liegen auf dem Boden vor den Fenstern. Alles ist still. Nichts regt sich in den Häusern. Auf der anderen Seite des Anwesens gelangt man in den kleinen Innenhof der Hausnummer 79. Ein paar Kleider hängen auf der Wäscheleine. In der Ecke liegt eine kaputte Porzellantoilette, viel Müll. Aber nirgendwo ein Schlupfloch, durch das man doch noch das Gelände betreten und dem Spuk auf den Grund gehen könnte.

Abends lässt ein Wächter dann doch ein paar wartende Menschen in den Innenhof, um Fotos von den Gebäuden zu machen. Hinein darf man nicht, betont er, es sei wirklich viel zu gefährlich, die baufälligen Häuser zu betreten, und scheucht die Neugierigen wieder durch das Tor hinaus. Für die Renovierung der barocken Bauten fehlt es der Patriotisch-Katholischen Gemeinschaft Beijings an Geld. Abreißen können sie die Häuser auch nicht, sie stehen auf der Liste der Exzellenten Architektur Beijings und damit unter Denkmalschutz. Das Grundstück ist aufgrund seiner zentralen Lage mehrere Millionen Euro wert und die Renovierung der Gebäude wurde einst auf nur 1,1 Millionen Euro geschätzt. Doch Investoren bleiben diesem Ort fern. „Aberglaube ist in China immer noch weit verbreitet", kommentiert Joseph Halvorson. Dinge, die mit dem Tod zu tun haben, meidet ein Chinese.

So bleibt dieser Ort ein stiller Fleck inmitten der belebten Chaoyangmenei. So still, dass man fast froh ist, wieder in das laute Treiben der Beijinger Innenstadt einzutauchen und die unheimliche Hausnummer 81 hinter sich lassen zu können.