26-08-2011
China Reportage
Im Kampf gegen Gerüchte
von Yin Pumin

Eine von Sina Weibo veröffentlichte Seite zur Widerlegung von Gerüchten

 

Die Geschichte verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Internet: Sechs Tage nach dem tragischen Zugunglück in der Nähe von Wenzhou in der ostchinesichen Provinz Zhejiang am 23. Juli, beklagte eine Bloggerin namens Guo Yao auf dem Mikroblog Sina Weibo den Tod ihres 100 Tage alten Babys. Das kleine Mädchen sei bei dem  Unfall gestorben, aber nicht auf der Liste der Opfer erschienen.

Der angebliche Todesfall befeuerte die zu diesem Zeitpunkt ohnehin bestehende Trauer und Verärgerung vieler Mikroblogger über den als inkompetent empfundenen Umgang der Regierung mit dem Unglück. Diese hatte etwa versucht, die abgestürzten Waggons unter Erde zu begraben, was Diskussionen über eine mögliche Vertuschung der Unfallursachen anregte. Jedoch: der Blogpost war eine Ente. Wu Danhong, außerordentlicher Professor an der Chinesischen Universität für Politikwissenschaften und Recht, identifizierte die Bilder des angeblich getöteten Babys. Sie stammten aus einem anderen Zeitungsartikel.

Dieses Beispiel verweist auf die aktuelle Kontroverse, die chinesische Netizens, Medienschaffende und Regierung über die neue Öffentlichkeit im Mikroblog-Zeitalter führen. Inzwischen erreichen Mikroblogs mit 195 Millionen Nutzern 40 Prozent aller chinesischen Internetnutzer. Sie ermöglichen es ihren Nutzern, Kurznachrichten mit bis zu 140 Zeichen, Photos und Videos miteinander zu teilen. Laut einer neuen Umfrage der Communication University of China sind sie inzwischen die drittwichtigste Quelle für Informationen; gerade junge Leute nutzen sie über ihr Mobiltelefon und verzichten völlig auf Fernsehnachrichten und Zeitungen.

Herrschte vor Weibo noch eine weitgehend einheitliche Linie in den staatlichen Medien, so hat die Mikroblogszene die chinesische Öffentlichkeit in einen vielstimmigen Chor verwandelt. Die Millionen Postings in den Mikroblogs verbreiten sich sekundenschnell und unterlaufen auf diese Weise die staatliche Zensur. „China ist viel offener und transparenter geworden. Die Leute haben im Netz eine große Meinungsfreiheit und Mikroblogging kann diese Freiheit auf ein neues Niveau heben", sagt  Charles Chao, CEO von Sina.com, Anbieter des Mikroblog-Marktführers Sina Weibo. So wie Chao denken auch viele Experten der Medienszene.

Doch diese Meinungsfreiheit hat eine Schattenseite: Ebenso wie Informationen in außergewöhnlicher Geschwindigkeit verbreitet werden können, breiten sich auch Gerüchte und irreführende Informationen aus. Nach dem Erdbeben und dem Tsunami in Japan im März diesen Jahres schrieben viele Mikroblog-User, dass China direkt von der japanischen Strahlung bedroht sei. Sie empfahlen den Verzehr von jodhaltigem Salz. Panikartige Hamsterkäufe waren die Folge.

Zudem stellen die Reaktionen auf die Blogposts immer öfter ein Problem für die Regierung dar. In der Stadt Zengcheng in der Provinz Guangdong befeuerte ein Gerücht einen zu diesem Zeitpunkt bereits gewaltsamen Protest von Wanderarbeitern gegen die lokale Polizei. Nachdem es nach einem Streit zwischen einer schwangeren Straßenverkäuferin und der Polizei zu einer Massendemonstration gekommen war, verbreiteten Weibo-Nutzer das Gerücht, dass die Polizei nun den Mann der schwangeren Frau getötet habe. Das Gerücht stachelte eine ohnehin vorhandene Unzufriedenheit der Wanderarbeiter angesichts einer restriktiven Behandlung durch die Polizei weiter an. Weitere Polizeiautos wurden angezündet und die Polizeiwache mit Flaschen und Steinen beworfen. Diese Reaktion ist aber nicht nur eine Folge des Gerüchts. Hinzu kommt ein weit verbreitetes Misstrauen vieler Chinesen gegenüber den staatlichen Medien und Institutionen, so dass Gerüchte einen starken Resonanzboden in der Öffentlichkeit finden und emotionale Reaktionen anfachen können. Derlei Gerüchte mit regierungs- oder staatskritischen Potenzialen fürchtet die Regierung am meisten.

Auf Sina Weibo werden täglich über 25 Millionen Nachrichten verbreitet. Derart zum Meinungsmacher in China geworden, geht die Firma systematisch gegen Gerüchte vor – auch um jeglicher Diskussion um eine Gefährdung der Sicherheit durch seine Mikroblogs und einer eventuellen Schließung der Plattform vorzubeugen. Im letzten November richtete Sina Weibo ein spezielles Team ein, das für die Verifizierung von Informationen in seinen Mikroblogs zuständig ist, Gerüchte aus den Blogs löscht und die korrigierten Informationen unter seinen Followern verbreitet.

Das siebenköpfige Team besteht aus ehemaligen Journalisten, Fremdsprachenexperten und Rechercheuren. Laut Teamleiter Tan Chao arbeitet dieses Team unabhängig von der hausinternen Zensurabteilung und ist lediglich für die Identifikation und das Löschen von nachprüfbar falschen Informationen zuständig. "Gerüchte entstehen leicht und können oft nur sehr schwer aus der Welt geschafft werden", sagte Tan. "Wir haben keine Ahnung, wo das nächste Gerücht herkommen wird." Wird der Mikroblogeintrag eines Nutzers besonders oft weiterverbreitet, ruft dies die Aufmerksamkeit des Teams auf sich – es verfolgt dann den Post zu seinem Ursprung zurück und untersucht schließlich, ob die Fakten in diesem Post stimmen. Mit diesem Vorgehen kann das Team nur wenige Gerüchte aus der Welt räumen, etwa ein bis zwei alle paar Tage, sagt Tan. Bislang waren das 129 Gerüchte seit Gründung des Teams.

„Wir löschen kein Gerücht, bevor wir nicht 100prozentig von seiner Fehlinformation überzeugt sind," sagt Tan. Beispielsweise hat das Team eine Nachricht über den Selbstmord eines Studenten aus dem Kreis Shaoyang in der zentralchinesischen Provinz Hunan entkräftet. Der Student sollte sich am Tag seiner nationalen Hochschulaufnahmeprüfung umgebracht haben, weil er von seinem Lehrer wegen einer 15-minütigen Verspätung an der Teilnahme am Examen gehindert worden sei. Das Team recherchierte diese Informationen nach und fand heraus, dass die lokale Polizei schon vor Beginn der Prüfung über den Selbstmord informiert worden war. So schied das Zuspätkommen als Grund für den Selbstmord aus – und der bereits zur Zielscheibe für böse Kommentare gewordene Lehrer wurde rehabilitiert. Zur Strafe wurden drei Usern ihre Accounts für einen Monat gesperrt. 

Auch andere Mikrobloganbieter wie Sohu.com, QQ.com und 163.com haben eigene Teams zur Bekämpfung von Gerüchten gegründet. Sina Weibos Team hat inzwischen mehr als 300 000 Follower und ruft die Netizens dazu auf, auf fragwürdige Postings aufmerksam zu machen.

Einige dieser Nutzer haben sich jedoch bereits selbst zu Gerüchtsbekämpfern erklärt. Im Mai gründete sich eine Gruppe Freiwilliger auf Sina Weibo, der Akademiker, Medienschaffende, Rechtsanwälte und Studenten beitraten. „Wir arbeiten freiwillig", erzählt Gründungsmitglied Dou Hanzhang, der als Wirtschaftsjournalist für die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua arbeitete und seine Gruppe als „Aufräumfreaks im Internet" bezeichnet. „Wir glauben, dass wir im digitalen Medienzeitalter nicht mehr warten können, bis Gerüchte durch die alten Medien entkräftet werden. Es dauert zu lange, bis die Fakten durch die einzelnen Abteilungen gegangen sind und eine offizielle Verlautbarung erscheint. Wir müssen die Gerüchte schon bekämpfen, während sie sich verbreiten", sagt ein Kollege von ihm, der den Bloggernamen Dianzizheng trägt und ebenfalls für die Gruppe arbeitet.

Auch wenn das Team mit bislang 150 entkräfteten Gerüchten recht erfolgreich ist, ruft  Dou Hanzhang die Regierung dazu auf, selbst mehr gegen Gerüchte zu unternehmen. „Es ist die Aufgabe der Regierung, angesichts von Katastrophen und Unfällen verlässliche Informationen bereit zu stellen", sagt er.

Sein Mitstreiter Dianzizheng sieht in der vagen und und langsamen Informationspolitik der Regierung sogar den Grund für die Entstehung vieler Gerüchte. „Die Regierungserklärungen kommen oft viel zu spät und sind zu oberflächlich", sagt er, „Und viele Leute glauben den Offiziellen nicht, dass sie eigene Fehler und Inkompetenzen in ihrem Verantwortungsbereich aufklären und gegen sie vorgehen." Um Gerüchten wie nach dem Erdbeben in Japan vorzubeugen, helfe nur eins: „Die Regierung muss eine offene Haltung entwickeln und transparenter werden."