Der dritte Dialog der Veranstaltungsreihe „Aufklärung im Dialog"zum Thema „Aufklärung und ihre chinesische Geschichte"
Mit dem dritten von insgesamt fünf Dialogblöcken der Veranstaltungsreihe „Aufklärung im Dialog", dem Begleitprogramm der Ausstellung „Die Kunst der Aufklärung", hat die Veranstaltungsreihe in Beijing Halbzeit eingeläutet. Der dritte Dialog zum Thema „Aufklärung und ihre chinesische Geschichte" am 9. September im National Museum of China widmete sich den chinesischen Aspekten der Aufklärung.
Daran nahmen zwei chinesische und zwei deutsche Philosophen als Referenten teil, Prof. Dr. Tang Yijie, Direktor des Forschungsinstituts für Chinesische Philosophie und Kultur an der Peking Universität, und Prof. Dr. Chen Lai, Direktor des Instituts für Philosophie der Tsinghua Universität, sprachen jeweils über „Aufklärung und sein harter Prozess in China", und „das Streben nach Aufklärung und die Reflexion über Aufklärung". Prof. Dr. Rudolf G. Wagner, geschäftsführender Direktor des Exellenzclusters „Asien und Europa im globalen Kontext" der Universität Heidelberg, und Dr. Henrik Jäger vom Institut für Philosophie der Universität Hildesheim, äußerten ihre Ansichten darüber, welche Einflüsse chinesischer Philosophie auf das Gedankengut deutscher Aufklärer nachgewiesen werden können.
Aufklärung und China
Tang Yijie sprach von Formen der Aufklärung in der chinesischen Geistesgeschichte. Nach ihm entstand Ende des 16. Jahrhunderts in China eine Gedankenströmung, die sich „gegen die feudale Ethik und Asketismus richtete und stattdessen den Individualismus und die Äußerung persönlicher Emotionen würdigte". Manche Gelehrte bezeichnen diese Gedankenströmung, als deren Hauptvertreter Li Zhi gilt, als Aufklärung, aber nach Tang sei sie doch ganz verschieden von der Aufklärung in Europa im 18. Jahrhundert. Das Kennzeichen der europäischen Aufklärung sei die Betonung der Vernunft, während die Gedankenströmung gegen die feudale Ethik mehr den Gefühlen zu ihrem Recht verhelfen wollte. Die Aufklärung in Europa führte zu großen Durchbrüchen in den Naturwissenschaften und zur Grundlegung der Sozialwissenschaften sowie zum Aufbau kapitalistischer und demokratischer Staaten, aber die Gedanken von Li Zhi und anderen wurden durch Festnahmen ihrer Vertreter unterdrückt. Alternativen zur herrschenden Moral fanden in China jeweils ein mehr oder weniger gewaltsames Ende.
Tang sagte weiter, nach Mitte des 19. Jahrhunderts bildete sich in China unter dem Einfluss der Aufklärung aus dem Abendland die Verwestlichungsbewegung. Hofkreise wollten Techniken aus dem Westen erlernen, aber das alte feudale System beibehalten. Auch die Reformbewegung im Jahre 1898 im Interesse einer liberalen Bourgeoisie ist durchgefallen. Dann wurde 1912 die Kaiserreich beendet. Die Vierte-Mai-Bewegung 1919 rief dazu auf, das Land zu retten, und versuchte, die Aufklärung im Geiste „demokratischer Politik und freier Gedanken" in die Praxis umzusetzen.
Dr. Henrik Jäger erklärte, seit Jahrhunderten wird die Aufklärung, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu einem tiefen und umgreifenden Wandel in Europa geführt hat, überwiegend als rein europäische Entwicklung begriffen. Nach seiner Meinung soll diese für das Aufkommen der Moderne so grundlegende Epoche ihr Entstehen auch der Begegnung mit östlichen Kulturen verdanken. In der weltoffenen Zeit der Frühaufklärung, im 17. und 18. Jahrhundert, war es vor allem die Kultur Chinas, die die Aufmerksamkeit bedeutender Gelehrter auf sich zog. Christian Wolff (1679 bis 1754), z. B., der bedeutende Wegbereiter der Aufklärung in Deutschland, hat seine Philosophie in einem Klima der Weltoffenheit und vielfältigen Auseinandersetzung mit der chinesischen Kultur entwickelt. Im Mittelpunkt des Interesses an China standen das konfuzianische Denken und dessen bedeutendste Vertreter, Konfuzius und Menzius (chinesisch Mengzi).
Reflexion über blinde Gegenentwürfe
Prof. Dr. Chen Lai von der Tsinghua Academy of Chinese Learning sagte, die politischen, geistigen und kulturellen Revolutionen im China des 20. Jahrhunderts waren alle eng mit Aufklärung verbunden. Seit den letzten dreißig Jahren der Reform- und Öffnungspolitik will China die Wirtschaft entwickeln und eine harmonische Gesellschaft aufbauen. China sollte heute nicht nur darüber nachdenken, was Aufklärung ist, sondern vor allem auch über den Einfluss von Aufklärung reflektieren.
Nach Chen hat die kulturelle Bewegung vor und nach der Vierten-Mai-Bewegung in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts die konfuzianische Ethik stark kritisiert und eine Befreiung des Alltagslebens von den Konventionen der traditionellen Moral gefordert. Dabei wurde die Tradition so umfassend kritisiert, dass man die positive Rolle der konfuzianischen Ethik komplett ignorierte. Die konfuzianische Sittenlehre auf der Grundlage von Natur und Vernunft, die in Europa der Aufklärung sehr gewürdigt worden war, wurde in China jedoch als feudale Ethik kritisiert und galt ihrerseits als der Aufklärung bedürftig.
Heute sollte China nach Auffassung von Chen beim Streben nach Restauration der Ethik selbstkritisch über die blinden Gegenentwürfe zur konfuzianischen Ethik während der letzten neunzig Jahre nachdenken. Aber diese Selbstkritik bedeutet keine Ablehnung der Werte der Aufklärung. Die Aufklärung legt Wert auf Vernunft, Menschenrechte, Freiheit, Demokratie und Individualismus, Chen sagte: „Dies sind alles wichtige Werte, aber man muss auch entsprechenden Wert auf Menschlichkeit, Pflichterfüllung, Gesellschaftsbindung, Zentralismus und Gruppenbildung legen." Die zwei verschiedenen Wertsysteme sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden, man müsse einen Ausgleich zwischen beiden schaffen, um sie an die Realitäten der Entwicklung der chinesischen Gesellschaft anzupassen.
Dazu meinte Prof. Dr. Rudolf G. Wagner, dass sich China in den letzten 60 bis 70 Jahren sehr schnell entwickelt habe, so sei es den Chinesen sehr leicht gefallen, auf die traditionelle Ethik zu verzichten. Jetzt will China ein Wertesystem auf solider moralischer Grundlage schaffen, deshalb die gegenwärtige Begeisterung für Chinese Learning bzw. die Lehre über traditionelle chinesische Kultur. Angesichts der schnellen Modernisierung wolle man die traditionelle Moral wieder hochschätzen. Tang pflichtete dem bei: „Die Begeisterung für die traditionelle Kultur Chinas ist der Wiederbelebung der chinesischen Nation zu verdanken. Jede Wiederbelebung einer Nation bedarf auch der Wiederbelebung einer nationalen Kultur."
Tang sagte, China sollte bei der Reflexion über die blinden Gegenentwürfe zu seiner traditionellen Kultur danach trachten, die chinesische Kultur mit ihrer langen Tradition zu überliefern und zu einer neuen Moderne zu erweitern. So plädierten einige chinesische Gelehrte angesichts der schweren Zerstörung der Natur für „die Vereinigung von Natur und Mensch", dies sei für die Harmonie zwischen Menschen und Natur sehr sinnvoll. Die Veranstaltungsreihe „Aufklärung im Dialog" wird von der Stiftung Mercator gemeinsam mit dem National Museum of China veranstaltet. Das Programm besteht aus fünf Dialogblöcken während der gesamten Dauer der Ausstellung vom Frühjahr 2011 bis zum Frühjahr 2012. Im Abstand von rund zwei Monaten diskutieren chinesische und europäische Wissenschaftler im National Museum of China über verschiedene Facetten der Aufklärung. |