06-08-2010
Gesellschaft
Immer mehr junge Leute verlassen die großen Städte
von Bao Dan

„Die Stadtflucht ist meine einzige Wahl"

Nach mehr als zehn Jahren in Shenzhen ist der 32-jährige Miao Xinqing mit Frau und Tochter in seine Heimatstadt Hohhot in der Inneren Mongolei zurückgekehrt.

„Ich bin buchstäblich aus Shenzhen geflohen, weil ich dort nicht länger leben und arbeiten konnte. Ich hatte keine andere Wahl", sagt Miao. Als er vor zehn Jahren sein Studium absolvierte, hatte er die Wahl: entweder eine Verwaltungstätigkeit bei einer Kreisbehörde in der Inneren Mongolei anzutreten, oder einen Job als Möbelverkäufer im südchinesischen Shenzhen anzunehmen. Das Anfangsgehalt in der Verwaltung betrug 700 Yuan (77 Euro), im Möbelhaus lag das Grundgehalt bei 1600 Yuan (umgerechnet 176 Euro) . „Damals fand ich, dass 700 Yuan zu wenig sind. Wenn das Gehalt bei 1000 Yuan (110 Euro) gelegen wäre, hätte ich den Posten angenommen." Nicht nur in Miaos Vorstellung hatte der Name Shenzhen einen guten Klang: das Boomtown in der Nachbarschaft Hongkongs, das viele Menschen aus Nordchina angezogen hat, ist lange ein Synonym für den leichten Erwerb von Vermögen gewesen. 

Unglücklicherweise ist Miao kein Verkaufstalent. Er konnte seinen Aufgaben keineswegs gerecht werden. Nach drei Monaten hatte er noch nicht ein einziges Möbelstück verkauft. Er scheute sich, noch länger sein Grundgehalt einzustreichen und kündigte von sich aus. „Später wechselte ich häufig meinen Job. Ich habe gemerkt, dass alles, was mit Verkauf und Handel zu tun hat, für mich nicht geeignet ist. Für Verkäufer ohne Biss gibt es auch keine Aufstiegsmöglichkeiten ins Management." In den vergangenen zehn Jahren hat Miaoin Shenzhen  bestenfalls ein Monatsgehalt von 5000 Yuan (umgerechnet 550 Euro) bezogen. Aber die Durchschnittsmieten in der Stadt waren bereits auf über 10 000 Yuan (1 100 Euro) gestiegen. Er hatte bereits geheiratet und eine Tochter bekommen. Seine Familie war gezwungen, in eine schäbige Wohnung am Stadtrand von Shenzhen umzuziehen. Jeden Tag fürchtete er, dass er seinen Job verlieren und das Geld nicht mehr zum Kauf von Milchpulver für seine kleine Tochter reichen würde. „Mir ist klargeworden, dass ich mittelmäßig bin. In Shenzhen sah ich keine Zukunft mehr für mich. Die Konkurrenz ist riesig. Mit wachsendem Alter würde ich keinen festen Job mehr finden können", sagt er.

Zum Frühlingsfest entschloss er sich, dauerhaft in seine Heimat zurückzukehren. „Meine Schulkameraden in der Inneren Mongolei haben alle einen Job gefunden, in dem sie mindestens 4000 Yuan im Monat verdienen können", sagt er.

Kommentar

Nach einer Untersuchung, die im April vom Meinungsforschungsinstitut Horizen durchgeführt wurde, würden fast 50 Prozent der Befragten am liebsten in Beijing, Shanghai oder Guangzhou leben. „In einem bestimmten Zeitraum ist es den Großstädten gelungen, umfangreiche Produktionsmittel und erhebliche Ressourcen anzusammeln, wodurch sie sich einen Entwicklungsvorteil verschafft haben. Dadurch wurden auch viele hochqualifizierte Arbeitskräfte angezogen. Zugleich ist die Konkurrenz schärfer geworden. Für die Städte untereinander wie auch für den Einzelnen. Die Situation von Miao ist beileibe kein Einzelfall", meint Xu Shaoyuan.

 

„Wer will sich schon eingestehen, dass er zu Höherem nicht berufen, mit Geringerem aber nicht zufrieden ist?"

Am 6. Juli 2010 steigt Chen Jialing, Absolvent der Montanistik, in Beijing in den Zug nach Baotou. Er will in seiner Heimatstadt eine Stelle in einem internationalen Bergwerksunternehmen antreten. Aber Xiao Chens Zukunft ist nicht alternativlos. Drei Monate zuvor hatte er ein Jobangebot in einem Beijinger Gutachterbüro erhalten. Nach reiflicher Überlegung hat er sich allerdings zu einer Rückkehr in die Heimat entschlossen.

„Ausschlaggebend war für mich, dass die Bedingungen, die mir in Baotou geboten werden, viel besser als in Beijing sind. In Baotou sehe ich große Aufstiegschancen. Die Tätigkeit in Baotou entspricht genau meiner Ausbildung. Als Bergbauingenieur empfinde ich eine tiefe Befriedigung, wenn ich das Erlernte in die Praxis umsetzen kann.

Seine Erfahrungen bei der Jobsuche fasst Chen so zusammen: „Berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten sind zweifellos wichtig. Allerdings gründet sich Erfolg nicht nur auf die Befähigung, sondern vor allem auch auf die Einstellung des Einzelnen." Viele seiner Kommilitonen hätten einen Job gefunden. „Wer ein behagliches Leben haben wollte, ist meistens in die Heimatstadt zurückgekehrt und hat dort einen Job gefunden. Die Leute, die keine Scheu vor einem harten Leben haben, gehen in die Bergbaugebiete, um dort zu arbeiten. Die Lebensbedingungen sind dort zwar erheblich unbequemer, aber es gibt gute Aufstiegschancen. Was gar nicht geht, ist die Haltung der ewig Unzufriedenen: Für Höheres ungeeignet, mit dem Geringeren aber nicht zufrieden. Wer weder die Härten des Alltags in einem anspruchsvollen Beruf aushalten kann, noch bereit ist, die Langeweile eines Durchschnittsjobs zu ertragen, wird nur sehr schwer seinen Traumberuf finden. Aufgrund ihrer verqueren Haltung haben einige meiner Kommilitonen noch keinen Job gefunden", so Chen weiter.

Kommentar

Ren Yuan meint, dass das Beispiel von Chen Jialing ganz gut die aktuelle Situation der Jugendlichen bei der Wahl des Arbeitsplatzes widerspiegele. Eine nüchterne Betrachtung der persönlichen Lage kann dazu beitragen, eine vernünftige Entscheidung zu fällen, mit der man langfristig leben kann. Die Entscheidung für oder gegen ein Leben in der Stadt kann den jungen Leuten niemand abnehmen. Die Stadt muss ihre Entscheidung respektieren. (Quelle: people's Daily)

 

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