06-08-2010
Gesellschaft
Immer mehr junge Leute verlassen die großen Städte
von Bao Dan

Nachdem sie einige Jahre in großen Städten gelebt und gearbeitet haben, entscheiden sich heute immer mehr chinesische Jugendliche dafür, ihre ganze Hoffnung auf ein Leben in relativ kleineren Städten zu setzen. Dieser Trend ist als „Beijing, Shanghai und Guangzhou verlassen" bekannt geworden. Obwohl die Zahl derjenigen, die sich von den großen Städten abkehren, noch nicht allzu groß ist, bildet sie doch einen bemerkenswerten Kontrast zu der seit Jahren vorherrschenden Tendenz, in die Metropolen des Landes zu ziehen.

Was steckt hinter diesem Phänomen? Die Redaktion der People's Daily hat eine Reihe von Interviews geführt, um die Ursachen für diese neue Wanderbewegung zu ermitteln.

 

„Das Leben in den großen Städten wird für Fremde immer schwieriger"

Im Mai dieses Jahres hat Wu Caiqiong, die zuvor fünf Jahre lang in Beijing lebte, in Wuhan, Hauptstadt der Provinz Hubei, eine Wohnung gekauft. Frau Wu hat ihren Job in Beijing gekündigt und ist nach Wuhan gegangen, um sich um den Ausbau der neuerworbenen Wohnung zu kümmern. Wenn der Arbeitsvertrag ihres Mannes in einem halben Jahr ausläuft, wird die ganze Familie nach Zentralchina umziehen.

Wu hat sich den Rückzug aus der Hauptstadt sehr genau überlegt. Vor drei Jahren haben ihr Mann und sie geheiratet. Seither haben sie insgesamt 500 000 Yuan (55 000 Euro) angespart. Mit den 20 000 Yuan (22 000 Euro), die sie von den Eltern zur Hochzeit bekamen, hält das Ehepaar insgesamt 700 000 Yuan (77 000 Euro) in Händen. „700 000 Yuan klingt nach nicht wenig. Allerdings reichen in Beijing  700 000 Yuan nur für die Anzahlung einer Zwei-Zimmer-Wohnung in der Nähe des dritten Ringes oder einer Drei-Zimmer-Wohnung in der Nähe des vierten Ringes." Außerdem muss Wus Familie monatlich mindestens 10 000 Yuan (1100 Euro) zur Tilgung der Kredite aufwenden, was eine große finanzielle Belastung für die Familie bedeutet. Wenn Wu in Zukunft ein Baby bekommt, würden Eltern und Schwiegereltern auf jeden Fall nach Beijing ziehen, um sich um das Kind zu kümmern, während sie weiter ihrer Berufstätigkeit nachginge. Dann würde es in der Wohnung sehr eng werden. Wenn die Eltern aber nicht nach Beijing ziehen, sondern sich Wu der Erziehung des Kindes widmen muss, würde sich dies negativ auf ihre Karriere auswirken. Sie müsste finanzielle Einbußen hinnehmen.

Außerdem verfügen weder Wu noch ihr Mann über das begehrte Niederlassungsrecht  (hukou) für Beijing. Schwierigkeiten für ihren Nachwuchs sind damit vorgezeichnet. Plätze in Kindergärten und der Zutritt zu angemessener Schulbildung gestaltet sich in chinesischen Städten für Nichtansässige immer noch schwierig. Wu Caiqiong hat sich vorsorglich schon einmal danach erkundigt: will ein Kind ohne hukou einen geeigneten Kindergarten und eine gute Schule besuchen, müssen die Eltern dafür mindestens 30 000 Yuan aufwenden.

„Wir spüren, dass das Leben in den großen Städten für Fremde immer schwieriger wird, außer man verfügt über gute Beziehungen oder ist tatsächlich sehr reich", sagt Wu.

Auch sind die Preise für Wohnimmobilien in Wuhan längst nicht so hoch wie in Beijing. In ihrer Heimatstadt kann Wu mit 700 000 Yuan eine Drei-Zimmer-Wohnung in guter Lage erwerben. Nach der Geburt ihres Babys bräuchten die Eltern nicht umzuziehen. Als daher Anfang des Jahres ein Headhunter ihren Mann ansprach, um ihm einen Job in Wuhan zu vermitteln, zögerte Frau Wu keinen Augenblick, ihrem Mann zuzuraten, in die  Provinz zu wechseln. "Nach dem harten Existenzkampf in der Hauptstadt bevorzugen wir nun das Leben in der alten Heimat", meint Wu.

Kommentar

Nach Ansicht von Ren Yuan, Professor am Institut für Bevölkerungsentwicklung der Fudan-Universität, haben die zu hohen Lebenshaltungskosten und der zu heftige Konkurrenzdruck in den großen Städten zur Verschlechterung der Lebensbedingungen der „Einwanderer" geführt. Unter den gegebenen Umständen wird es für junge Menschen immer schwieriger, in den Metropolen ihr Glück zu finden. Deshalb haben sich viele dazu entschlossen, aus der großen Stadt zu „flüchten".

Ren erläutert den demographischen Hintergrund dieser Entwicklung: Von den 70er bis in die 90er Jahre stieg die Zahl der Neugeborenen von 16 Millionen auf 25 Millionen an. Mit dem Bevölkerungswachstum wuchs der Konkurrenzkampf um die besten Perspektiven in der modernen Gesellschaft. Das Angebot in den Bereichen medizinischer Versorgung, Bildung und anderen öffentlichen Dienstleistungen kann mit dem gestiegenen Bedarf nicht mehr Schritt halten. Besonders in den Städten, deren Urbanisierung sehr rasch erfolgt ist, haben sich die Bedingungen für  Neuankömmlinge deutlich verschlechtert.  

 

  „Nicht nur die Metropolen bieten Chancen!"

Der 27-jährige Liu Zhigang hat schon vor sieben Jahren die Hochschule absolviert. Er hat reichhaltige Arbeitserfahrungen gesammelt, u.a. in Beijing, Dongguan, Wuhan und Sanmenxia.

Direkt nach Abschluss seines Architekturstudiums an der Universität Wuhan ging Liu im Jahr 2004 nach Beijing, den Kopf voller Karrierepläne. „Damals hatte ich nichts anderes im Sinn, als in einer Metropole zu arbeiten. Woanders, so dachte ich, gäbe es für mich keinerlei Perspektive", erinnert sich Liu.

Lius hochfliegende Hoffnungen zerstoben bald. „In Beijing war es aussichtslos für mich. Das, was ich aufgegeben hatte, stand in keinem Verhältnis zu dem, was ich in der Hauptstadt erreicht habe", sagt Liu. Anfang 2008 entschloss er sich, Beijing nach mehr als drei Jahren eines harten Existenzkampfes wieder zu verlassen. Übergangshalber arbeitete Liu dann in einer kleinen Immobilienfirma in Dongguan, einer vergleichsweise kleinen Stadt in der Provinz Guangdong. 2009 hatte Liu einen Job als Architekt in einer Baufirma gefunden. Er bekam ein Gehalt von 4000 Yuan (440 Euro). „Die Firma hat hauptsächlich Projekte in Zentralchina durchgeführt. Dank der Förderung dieser Region durch die Zentralregierung sind dort zahlreiche Bauprojekte durchgezogen worden. Verglichen mit meiner Tätigkeit in Beijing ist es dort zumindest keine Verschlechterung für mich gewesen", sagt er.

Ende 2009 startete Lius Firma ein Projekt in der Stadt Sanmenxia in der Provinz Henan. Liu wurde gefragt, ob er als Projektleiter dorthin gehen wolle. Liu willigte sofort ein. Er sagt: „Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass nicht nur die großen Städte eine berufliche Perspektive bieten können. Junge Leute sollten immer dorthin gehen, wo sie die besten Karriereaussichten haben!"

Liu ist jetzt schon fast ein Jahr in Sanmenxia. Sein Monatsgehalt liegt bei mehr als  7000 Yuan (770 Euro). „Mein gegenwärtiges Ziel ist eine Verbesserung meiner Qualifikation durch ein gründliches Einarbeiten in alle Teilaspekte des Projekts. Damit ich wirklich ein guter Projektleiter werden kann", sagt er.

 

Kommentar

Xu Shaoyuan, stellvertretender Wissenschaftsrat des Instituts für Betriebswirtschaft am Analysezentrum für Wirtschaft beim Staatsrat, meint, dass dank der Stärkung der regionalen Wirtschaft Chinas mittelgroße und kleinere Städte rasant gewachsen seien. Früher habe es erhebliche Unterschiede hinsichtlich der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung gegeben. Besonders in den größten Städten Beijing, Shanghai und Guangzhou war der Lebensstandard viel höher als in den Städten der Provinz. Allerdings habe sich diese Entwicklungstendenz seit 2004 umgekehrt. Die Förderpolitik zugunsten der Regionalwirtschaft hat wesentlich zum Aufstieg der Provinzstädte beigetragen, während sich gleichzeitig die Metropolen vor großen Herausforderungen sehen. Das hat zu tun mit ihrem Mangel an natürlichen Ressourcen zur Deckung des Bedarfs einer wachsenden Einwohnerschaft. Vor allem der Mangel an Bauland und die explodierenden Wohnungspreise stellen die Kommunen vor erhebliche Probleme. Um Platz zu schaffen und die Umweltsituation zu verbessern, sind viele Betriebe umgesiedelt worden. Westchina verfügt über erhebliche Naturressourcen. Die Rohstoffpreise sind kontinuierlich angestiegen, was zur Entwicklung der Region beigetragen hat.

Ihr Wirtschaftswachstum versetzt die Provinzstädte in die Lage, mehr Arbeitsplätze anzubieten, was wiederum die Lebensverhältnisse verbessert und das Einkommensniveau erhöht. Die Attraktivität dieser Städte wächst weiter.   

 

1   2   >  

Mehr dazu:
Stockfisch oder Sardine? Eine schöne Jugend!