25-05-2010
Immobilien
Utopia in Beijing
 von Peng Xiaoling

 
Fan Ting und ihr Hund "Lehnman"
 

Xiao Ma, Fan Tings Freund
 
 

Jeden Morgen um halb sieben gehen die Bauern aus einem Dorf unweit des sechsten Rings der Stadtautobahn von Beijing zur Arbeit auf die Felder. Eine junge Frau im Businesskostüm hetzt hingegen in großer Eile auf der frisch geteerten Straße in Richtung Bushaltestelle, um den Bus nach Beijing zu erwischen. Ihren Füßen zuliebe trägt sie fast nie Schuhe mit hohen Absätzen. Dreißig Minuten später hält der Bus an der Endhaltestelle einer U-Bahnlinie. Sie steigt in die U-Bahn um. Nun hat sie gerade einmal die Hälfte ihres täglichen Wegs zur Arbeit zurückgelegt, es sind jetzt noch elf U-Bahnstationen. Erst dann ist sie in ihrem Büro.

Zwar kann sie ab dieser Woche mit ihrem neuen Auto direkt zur U-Bahn Station fahren, aber dieses zeitraubende Pendeln zwischen Stadt und Dorf wird noch mindestens fünf Jahre anhalten. Die junge Frau, die in der Stadt arbeitet aber auf dem Lande lebt, heißt Fan Ting und ist eine 26-jährige Büroangestellte aus Beijing. Vor kurzem hat sie einen Bauernhof mit einer Fläche von ungefähr 1300 Quadratmetern für die Dauer von fünf Jahren angemietet. Es gibt einen Obstgarten, zwei Umfriedungen. Mehr als zwanzig Zimmer stehen zur Verfügung. Hier möchte sie eine kleine Gemeinschaft aus White Collar Worker gründen, um ihren Traum zu verwirklichen. Unter ihrem Einfluss sind bereits zwei Familien aus der Stadt aufs Land gezogen und ihre Nachbarn geworden.

Ist diese kleine Gemeinschaft von „Büroangestellten" die lebensreformerische Utopie einer romantischen Jugend mit Flausen im Kopf, oder eine Verzweiflungstat, um dem Stadtleben und seinen exorbitanten Kosten zu entgehen? Reporter der Shanghai Morning Post haben vor kurzem vor Ort ein Interview gemacht.

 

Ein junges Paar auf der Suche nach einem idyllischen Leben

An einem sonnigen Nachmittag sitzen einige Bauern plaudernd im Schatten einer Mauer. Begleitet von den Netizens „Yin Xiaoyin" und „Popona" gelangen wir an das Tor von Fang Tings Hof. Yin Xiaoyin klopft an das rostige Eisentor und murmelt: „Sie sollten eine Klingel installieren." Sofort fängt ein Hund an zu bellen. Dann ein Ruf: „Lehman, ruhig!". Eine junge Frau mit blassem Teint öffnet das Tor. Es ist Fan Ting, Initiatorin der „Landkommune" von Büroangestellten. „Fan Ting" war eigentlich ein Alias-Name, den sie in einem früheren Interview verwendet und einfach beibehalten hat. Sie möchte nicht, dass ihre Kollegen aus der Finanzwirtschaft über sie wegen ihrer Vorliebe für das Landleben klatschen. Sie lebt mit ihrem Freund Xiao Ma zusammen, einem Absolventen der Peking Universität und nun Doktorand an der Akademie der Wissenschaften.

Vor ihrem Umzug aufs Land wohnten Fan Ting und Xiao Ma zur Miete in einer Ein-Zimmer-Wohnung von gerade einmal 30 Quadratmetern in der Nähe von Xizhimen an der nordwestlichen Zweiten Ringstraße. Ende 2008 haben sie einen streunenden Hund bei sich aufgenommen. Damals war gerade die weltweite Finanzkrise ausgebrochen. Der Bankrott der Investmentbanker Lehman Brothers schockierte die Welt. Deshalb hat Fan Ting den Hund auf den Namen „Lehman" getauft.

Seit Beginn ihres Studiums an der University of International Business and Economics hat Fan Ting in Beijing gelebt, insgesamt zehn Jahre lang. Doch ihr Drang, dem Stadtleben den Rücken zu kehren, ist mit den Jahren immer stärker geworden. Das kleine zugelaufene Hündchen Lehman war nach nur einem Jahr um fast einen Meter gewachsen und brachte 40 Kilo auf die Waage. Der Lebensraum für die drei Bewohner der Einzimmerwohnung nahm hingegen immer mehr ab. „Lehman litt damals sehr unter der kleinen Wohnung. Es ist verboten, innerhalb des fünften Ringes so große Hunde zu züchten. Am Tag wagten wir gar nicht, mit ihm Gassi zu gehen. Nur nachts nach elf Uhr haben wir uns mit ihm auf die Straße getraut", erinnert sich Xiao Ma.

Schließlich haben sich Fan Ting und Xiaoma dazu entschlossen, ein neues Leben zu beginnen. Sie wollten endlich ohne Raumnot in einer angenehmen Gegend wohnen.

 

„Wir gründen unsere eigne Gemeinde!"

Am 6. Juli 2009 hat Fan Ting auf der bekannten Webseite Douban.com eine Gruppe unter dem Name „Wir gründen unserer eigne Gemeinde" aufgebaut und ihre Deklaration veröffentlicht: „Das Leben ist zu kurz um Zeit zu verschwenden! Die Immobilienpreise in der Stadt sind unerträglich. Ich kaufe mir keine Wohnung, ich möchte Mieter bleiben. Außerdem will ich nicht länger in der Stadt leben. Schon lange fehlt es mir an Luft zu atmen, es fehlt mir, den blauen Himmel zu sehen und einen großen Hof zur Verfügung zu haben."

Als Fan im Internet um Teilnehmer warb, stellte sie folgende Bedingungen auf: „Wer mitmachen will, sollte folgende Hobbys bevorzugen: Bücher lesen, Filme gucken, Musik hören, kochen oder basteln. Außerdem muss jeder dazu bereit sein, sich auf eine neue Form des Wohnens einzulassen."

Zu ihrer großen Überraschung meldeten sich innerhalb kurzer Zeit Hunderte von Netizens, die sich interessiert zeigten, bei dem Projekt mitzutun. Dass ermutigte Ting dazu, die Sache sehr ernsthaft weiter zu betreiben. Allerdings gab es auch Internetuser, die Bedenken trugen, ob die Gemeinschaft wirklich aufgebaut werden würde. Denn man würde von Bauern einen Hof anmieten. Sie befürchteten, dass die Vermieter den Vertrag brechen würden, wenn die Gemeinde erst einmal etabliert sei.

Letzten Oktober hatten Fan Ting und interessierte junge Netizen damit begonnen, an den Wochenenden nach geeigneten Häusern und Bauernhöfen Ausschau zu halten. Fang Ting und Xiao Ma wurden schließlich fündig. Die Miete liegt bei nicht mehr als 3000 Yuan im Monat.

 

Freud und Leid in der Gemeinde teilen

Der Traum vom Leben auf dem Lande ist also verwirklicht. Es gibt einen Gemüsemarkt im Dorf. Wassermelonen kosten dort fast so viel wie in der Stadt, sind aber viel frischer. Es gibt hier keine offiziellen Taxis, sondern nur illegale. Für 40 Yuan fahren sie einen direkt zur U-Bahn-Station. Allerdings sind die meiste Dinge des täglichen Bedarfs im Dorf viel preisgünstiger. Fan Ting ist sehr zufrieden mit der Tasche, die sie auf dem Gemüsemarkt für nur vier Yuan gekauft hat. Der graue Stoff mit rosa Tragschlaufen ist in ihren Augen sehr schick und hochmodern. Außerdem wundert sie sich darüber, dass Tofu im Dorf frischer ist und viel besser schmeckt als in der Stadt.

Was Fan Ting aber besonders gefällt, ist das gute Verhältnis zu den Nachbarn im Dorf. In ihrem Blog hat sie ausführlich darüber geschrieben, wie zum Beispiel Nachbar Wang ihr und Xiao Ma selbst gemachte Teigtaschen geschenkt hat. Als sie Anfang April das Beet in ihrem Garten umgrub, sagten ihr viele Bauern, dass die Erde noch zu kalt sei und man besser später die Erde auflockern sollte.

Im Vergleich zur Stadt ist das Leben im Dorf eintönig. Es gibt kein Kino, keine Bibliothek und kein Fitnessstudio. Trotzdem findet Fan, dass das Leben im Dorf besser sei als das in der Stadt: „Muss man denn unbedingt ins Fitnessstudio gehen, wenn man sich bewegen will? Es ist für mich viel besser auf der Dorfstraße, neben der Blumen blühen, zu joggen."

Bevor sie das Auto kauften, hatte Xiao Ma ein Elektromofa erworben, um im Gemüsemarkt in der Nähe einkaufen zu gehen. Xiao Ma erzählt noch etwas anderes über das Landleben: „Erst nachdem wir hierher umgezogen sind, habe ich festgestellt, wie kompliziert das Alltagsleben eigentlich ist! Hier muss man sich um viele Sachen selbst kümmern. Außerdem gibt es viele Dinge, mit denen man in der Stadt gar nichts anfangen könnte. Zum Beispiel die Axt hier in meiner Hand. Wer würde sich so etwas schon in der Stadt zulegen?" Während er das sagt, hackt er das Brennholz für die Grillparty heute Abend.

In ihrem Wohnzimmer haben sie ein Teleskop aufgestellt, um den Sternenhimmel zu beobachten, denn man in Beijing kaum je zu Gesicht bekommt. An der Wand hängt eine Gitarre. Lehman hat auf der weißen Wand einen Pfotenabdruck hinterlassen, den Fan Ting mit einem grünen Farbstift bearbeitet hat. So ist aus dem Pfotenabdruck eine Blume geworden. (Quelle: Shanghai Morning Post)