Der Wanderarbeiter An Dawei steht schon drei Tage für eine Fahrkarte an. Heute schafft er es endlich an den Schalter, aber sicher ist es nicht, ob er auch wirklich eine Fahrkarte erhält. Abends schwingt er sich über die Absperrung und gibt seinen Ausweis einem Wachmann, damit er nach einer kurzen Pause, in der er sich in einem Laden Kürbiskerne kaufen geht, wieder seinen Platz in der Warteschlange einnehmen kann. Hinter ihm war die Schlange schon wieder 100 Meter lang.
An Dawei ist 32 Jahre alt, er stammt aus Chengdu, der Hauptstadt der südwestchinesischen Provinz Sichuan, und arbeitet schon seit zwei Jahren in Shanghai. Letztes Jahr hat er vor dem Frühlingsfest im Südhauptbahnhof schon eine ganze Nacht lang Schlange gestanden. Diesmal sind es nun schon drei Tage des Wartens.
Dieses Jahr werden Fahrkarten zehn Tage vor Reiseantritt verkauft. Wer es also am ersten Verkaufstag nicht schafft, ein Ticket für sein Wunschreisedatum zu erhalten, muss am nächsten Verkaufstag wiederkommen und sein Glück für den nächsten Reisetag versuchen. Die Tickets sind stets schon am ersten Verkaufstag vergriffen.
„Ich habe zwei Tage Schlange gestanden, aber für keinen der entsprechenden Reisetage habe ich noch einen Fahrschein erhalten", sagt An Dawei ratlos. Heute, am dritten Tag, steht er schon seit 12 Uhr mittags hier, insgesamt sieben Stunden in eisiger Kälte. Zwar schafft er es schließlich an den Schalter zu gelangen, dort aber Fehlanzeige: auch heute gibt es keine Fahrkarte für ihn.
Den anderen ergeht es nicht besser: niemand in der hundert Meter langen Schlange wird heute ein Ticket erhalten, jetzt hoffen alle, ab 15.00 Uhr des folgenden Tages eine Fahrkarte für den 5. Februar lösen zu können. Aber bis dahin muss An Dawei noch 20 Stunden warten.
Leicht erhältliche Tickets sind noch leichter zu kaufen – Schwer erhältliche noch schwerer
Um den Druck auf die Schalterhalle zu mindern, hat man auf dem nördlichen Bahnhofsvorplatz ein riesiges Zelt aufgebaut. Darin befinden sich 200 zusätzliche Schalter, an denen von 15.00 bis 21.00 Uhr Fahrkarten verkauft werden. Die Warteschlangen winden sich aber meist bis ins Freie hinaus.
Am 25. Januar abends gegen halb acht sind die Schalter Nummer 20 bis 60 offen, die Schlange vor jedem Fenster ist nicht lang, sieben bis acht Leute, ein scharfer Kontrast zu der 100 Meter langen Schlange vom Morgen. Ein Bahnbeamter meint: „Die Fahrkarten, die leicht erhältlich sind, kann man jetzt noch einfacher kaufen. Die Fahrkarten, die man kaum bekommt, sind jetzt noch schwerer zu erhalten."
Die Fahrkarten, die man kaum bekommt, dass sind die für die Züge von Shanghai nach Südwesten, Nordwesten und Nordosten. Das größte Transportvolumen gibt es für die Provinzen Sichuan und Gansu, zwei klassische Reservoirs für Wanderarbeitskräfte.
19:45 Uhr: Nach langem Warten sind die Gesichter Hunderter von Menschen von der Kälte gerötet. Ab und zu springt jemand über das Schutzgeländer und reicht im Weggehen einem Wachmann seinen Ausweis. Nach dem Gang auf die Toilette oder einem kurzen Einkauf von Lebensmitteln geht es zurück in die Schlange.
Ein Polizist zuckt mit den Achseln und sagt: "Auch wir sind ratlos. Geht einer der Wartenden aus der Schlange, ohne seinen Ausweis zu hinterlegen, springen sofort zwei Leute an seiner Statt hinein. Aber niemand streitet mehr um einen Platz in der Schlange Die Leute sind wohl zu durchgefroren, um noch zu Streit aufgelegt zu sein."
„Die Schlange ist jetzt nur noch kurz. Morgens ist die Schlange wirklich lang, sie reicht bis an die Xiela-Brücke, 200 Meter von hier. Der Kopf der Schlange wird morgens breiter, er besteht dann aus etwa vier bis fünf Menschen," sagt ein anderer Polizist.
Die Polizisten und Wachmänner haben schon daran gedacht, die Schlange durch die Ausgabe von Nummern aufzulösen und den Wartenden dadurch das Warten zu erleichtern. „Aber es hilft nichts", sagt ein Wachmann, „Selbst mit einer Nummer auf dem Handrücken muss man sich am nächsten Tag erneut anstellen, wenn es nicht geklappt hat mit dem Kauf einer Karte."
Das Zelt ist immer leer
Herr Zhang unterhält sich im Shanghai-Dialekt mit dem Wachmann. Er will zwei Tickets nach Qiqihar kaufen, eine Stadt weit oben im Nordosten Chinas: Ich bin geübt im Schlangestehen. Während der Kulturrevolution bin ich als Jugendlicher aufs Land geschickt worden. In meinem ganzen Leben bin ich auf nichts so gut vorbereitet worden wie auf das Schlangestehen!", witzelt der Alte.
An Dawei weiß zwar um die Probleme beim Schlangestehen, aber jetzt setzt er seine Hoffnung auf die Öffnung des Zelts mit der improvisierten Schalterhalle. „Wenn wir im Zelt in der Schlange stehen, ist es wenigstens nicht so windig." Die umstehenden Wachmänner pflichten ihm bei.
Vor dem 24. Januar durfte niemand im großen Zelt warten. Dann wurde sogar erlaubt, darin die Nacht zu verbringen. Zwar ohne Bett und Heizung, aber durch die dicke Zeltwand weht wenigstens kein Wind und man kann halbwegs bequem auf Stühlen sitzen.
Ein Polizist erklärt: „Wer jetzt im Zelt wartet, möchte noch eine Fahrkarte für den 4. Februar lösen. Die Schlange vor dem Zelt besteht schon aus Kandidaten für den 5. Februar. Wenn wir sie jetzt schon reinlassen, wird es ganz chaotisch. Wenn der Verkauf der Fahrkarten für den 4. Februar abgeschlossen ist, reinigen wir das Zelt und lassen anschließend die Leute rein."
20:00 Uhr, 25. Januar : Der Verkauf der Tickets für den 4. Februar ist zwar noch nicht beendet, aber trotzdem kommt Bewegung in die Schlange vor dem Zelt. Denn der Einlass beginnt.
Am Eingang des Zelt malt ein Angestellter auf den Handrücken eines jeden eine Nummer. Diese Nummer ist nun der einzige Nachweis, dass man in der Schlange gestanden ist. Das wärmende Zelt vor Augen, drängen jetzt immer mehr Menschen nach vorne, die Polizisten und Wachmänner müssen ihre Stimmen erheben und sogar mit Körpereinsatz versuchen, die Schlange in Form zu bringen.
An Dawei gelangt problemlos ins Zelt und sitzt nun auf einem Stuhl. Er muss noch warten. |