„Durch Verbeugen drücke ich Respekt und Gleichheit aus"
Seit seinem Antritt als Direktor der Nanshan-Schule hat sich Li Qingming dafür eingesetzt, in der Schule Bürgerbewusstsein zu entwickeln. Bei der Umsetzung von Theorie in Praxis gibt es allerdings Erscheinungen, die auf den ersten Blick kurios wirken. Ein typisches Beispiel: Seit fünf Jahren steht Li Tag für Tag vor Schulbeginn vor dem Haupteingang der Schule und verbeugt sich vor jedem Schüler, der das Schulgelände betritt. Er fordert die Schüler dazu auf, sich in Erwiderung des Grußes auch vor ihm zu verbeugen.
Li Qingming sagt, dass anfangs auch für ihn diese neue Sitte ungewohnt war. Seine Aktion hat für beträchtliches Aufsehen gesorgt. Besonders wenn die Blicke der Passanten auf ihn fielen, fühlte sich Li unwohl. „Da habe ich gemerkt, wie mein Herz schneller schlug und sich mein Kopf feuerrot färbte", erinnert er sich. Tag für Tag, Jahr für Jahr ist dieser freundliche Direktor schließlich ein unverzichtbarer Teil des Schulambientes geworden. Die Presse schrieb dazu: „Das Verbeugen des Direktors seit sechs Jahren hat die Herzen der Kinder rein gemacht."
„Wir sollen die Kinder dazu anregen, Bürger mit Seele zu werden"
In den Sommerferien hat sich ein Schüler das Leben genommen. Er ist von einem Hausdach in die Tiefe gesprungen. Normalerweise wird an chinesischen Schulen in so einem Fall nach dem Grundsatz verfahren: „Seine schmutzige Wäsche soll man nicht in der Öffentlichkeit waschen." Selbstmord ist ein Tabuthema, es wird nicht darüber gesprochen. Ganz anders Li: er hat sich dazu entschlossen, an der Schule eine Trauerfeier zu veranstalten.
Der Lehrer des Jungen hat ein Foto, auf dem der Schüler voller Freude Seifenblasen pustet, ausgewählt, um es für die Trauerfeier auszudrucken. „Dieses traurige und kurze Leben hatte auch seine sonnigen Seiten", so die Botschaft. Alle Kinder der Klasse haben Blumen und Kerzen für ihren Schulkameraden niedergelegt. Nachdem der Klassenlehrer ein Gedenkgedicht vorgelesen hatte, hielten zahlreiche Freunde des Jungen kurze Ansprachen, in denen sie sich an die Zeit mit diesem Jungen erinnerten.
Nach dem Erdbeben vom 12. Mai 2008 hat Li ebenfalls eine Trauerfeier in der Schule organisiert. Er hat einige Takte der „Air auf der G-Saite" ausgewählt. Während der Melodie standen alle Lehrer und Schüler in schweigender Trauer.
Mittlerweile ist Respekt vor dem Leben ein täglicher Bestandteil des Schullebens geworden. Allmorgendlich werden nach der Morgengymnastik im Rundfunk Katastrophenachrichten aus der Welt verlesen. Untermalt von einer getragenen Melodie wird anschließend eine Schweigeminute abgehalten.
Ein Schüler hat im Online-Forum der Schule geschrieben: „Nach einem Streit mit meinen Eltern habe ich auch schon an Selbstmord gedacht. Durch die Trauerfeiern habe ich aber gelernt, wie wichtig das Leben, die Freundschaft und der Zusammenhalt in der Familie sind. Ich werde mein Leben immer respektieren."
„Ich habe keine sehr hohen Ansprüche an meine Schüler. Ich hoffe nur, dass sie gute Bürger mit Seele und Gefühlstiefe werden können. Auch wenn ich eines Tages nicht mehr Direktor dieser Schule bin, kann ihnen niemand Seele und Tiefe wegnehmen", so Li Qingming. |