06-09-2013
Porträt
Mo Yan über die Verantwortung der Schriftsteller in der Ära der Globalisierung
von Zeng Wenhui

Mo Yan (re.) und Volker Braun (Mitte)

Am 1. September wurde das „Chinesisch-deutsche Schriftstellerforum 2013", das von Institute of Foreign Literature bei der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, dem Literarischen Colloquium Berlin und der Renmin University of China veranstaltet wird, in Beijing eröffnet. 

Chinesische Schriftsteller wie Mo Yan, Jia Pinwa, Liu Zhenyun, Li Er und Zhang Yueran sowie deutsche Autoren wie Volker Braun, Rolf Lappert, Ursula Krechel, Judith Kuckart, Sherko Fatah diskutieren zwei Tage lang über Themen wie „Die Literatur in der Ära der Globalisierung", „Verantwortung und Freiheit", „Kommunikation und Wandlung", „Bewegung und Kreation" sowie „Verfremden oder Verstehen" .

An der ersten Diskussion nahmen der Literatur-Nobelpreisträger Mo Yan und der aus der ehemaligen DDR stammende Volker Braun teil. Ihr Thema war die Verantwortung der Schriftsteller in der Ära der Globalisierung.

 

Die Verantwortung der Schriftsteller ist eine menschliche Verantwortung

Mo Yan begann seinen Vortrag „Die Verantwortung des Schriftstellers im Zeitalter der Globalisierung" mit einigen Worten über das gute Wetter in Beijing. Das gute Wetter sei das Ergebnis der Anstrengungen aller Menschen. Wie bei den Beziehungen zwischen verschiedenen Ländern könne es nur gutes Wetter geben, wenn alle bestimmten Regeln folgten.

Mo Yan schilderte außerdem mehrere Erlebnisse in Deutschland. 1987 war er zum ersten Mal dort, damals stand noch die Berliner Mauer. Einige Jahre später war sie verschwunden. Beim Bau wünschte man sich eine stabile Mauer, je stabiler, desto besser. Dennoch war der Abriss einfach, sie fiel über Nacht. Ein wenig bedauerte Mo ihr Verschwinden. Es sollte ein Tor in der Mauer geöffnet werden und sie sollte als Sehenswürdigkeit erhalten bleiben, wünscht er sich. „Sie ist auf jeden Fall ein historisches Zeugnis und zeigt die Leiden einer Epoche auf", so Mo.

Ein weiteres Erlebnis hatte er an einem Regentag. Eine alte Frau verletzte ihn mit einer Regenschirmspitze am Augenwinkel, so dass Tränen und Blut gleichzeitig aus seinem Auge flossen. „Auch die Frau vergoss Tränen und zitterte am ganzen Körper. Sie sagte ununterbrochen etwas, was ich nicht verstehen konnte, aber ich wusste, dass sie um Entschuldigung bat." Die Frau verfolgte Mo Yan, „als ob ich sie verletzt hätte", so Mo. Seine deutschen Freunde, die ihn begleiteten, schlugen vor, Anklage gegen die Frau zu erstatten, um eine Entschädigung zu erhalten. „Ich fand das unnötig, denn die Frau fühlte sich schlechter als ich mit meinem verletzten Auge. Dadurch begriff ich, dass man, wenn man jemanden unabsichtlich verletzt, sich nicht besser als der Verletzte fühlt. Wir sollten gegenüber jemand, der einen anderen unabsichtlich verletzt, tolerant sein."

Sein letztes unvergessliches Erlebnis in Deutschland hatte er in Hamburg bei einem deutschen Mädchen. Der Vater des Mädchens war ein alter Mann, weißhaarig und dick, er sah sympathisch aus. Er machte Tee für alle und begrüßte die Gäste herzlich. Im Haus gab es eine Blechtrommel, sie gehörte dem Vater. „Als wir die Blechtrommel sahen, wussten wir, dass der Vater früher in der Hitler-Jugend gewesen war. Wir waren überrascht. Wie konnte so ein netter Mann mit den Nazis zu tun haben? Aber so ist die Geschichte. Das machte uns klar, dass man einige Fragen aus historischer Perspektive sehen muss. Auch viele intelligente und rationale Menschen lassen sich täuschen und von der Strömung mitreißen. Man sollte die Geschichte nicht vergessen, aber man sollte auch diesen Menschen verzeihen."

In der Diskussion nahm Mo Yan auch zur Frage, wie Literatur und Kunst sich in einer vom Kapital kontrollierten Ära verhalten sollten, Stellung. Ein Schriftsteller sollte nicht mit dem Strom schwimmen und einen starken Willen zeigen, erklärte er. In den 1990er Jahren gab es einen Trend zur Kommerzialisierung in China, so dass viele Beamte, Künstler und Schriftsteller Geschäfte machten oder Aktien kauften. Auch Mo Yan ließ sich davon mitreißen. Er schrieb mit seinen Freunden 1992 ein Drehbuch für eine Fernsehserie und wurde dafür gut bezahlt. Damals gab es für eine Episode normalerweise 3000 Yuan, er erhielt 150.000 Yuan, steuerfrei. Das bedeutete damals mehr, als heute 1,5 Millionen Yuan zu verdienen.

Aber in der gleichen Zeit zogen sich einige Schriftsteller in ihr Arbeitszimmer zurück, um zu schreiben. Autoren aus der Provinz Shaanxi schufen mehrere landesweit einflussreiche Romane, wie „Bailuyuan" (White Deer Plain) von Chen Zhongshi und „Die verlassene Stadt" von Jia Pingwa. Es kam wieder in Mode, Romane zu lesen.

„Heute erscheint es mir so, dass die vermeintlich klugen Schriftsteller, die Geschäfte machten, eigentlich dumm sind," sagt Mo Yan. „Bailuyuan" wurde in einer Auflage von mehreren Millionen Exemplaren verkauft. Der Schriftsteller verdiente daran noch mehr. Jia Pingwa ist offenbar einer der reichsten Schriftsteller Chinas, wenn man von Raubkopien seiner Werke absieht. Literarische Werke werden übersetzt und verfilmt, so dass die Schriftsteller gut verdienen.

Gesellschaftliche Verhältnisse seien sehr komplex, meint Mo Yan. Ein Schriftsteller sollte dennoch eigene Werte haben und auf seinem Weg eigenen Ideen folgen, ohne sich um Veränderungen und Wandlungen in der Gesellschaft zu kümmern.

Unter Schriftstellern käme das Thema der gesellschaftlichen Verantwortung gar nicht zur Sprache, berichtete Mo. Seinem Empfinden nach übernimmt er beim Schreiben in seinem Arbeitszimmer keine spezielle Verantwortung. Der Schriftsteller habe die gleiche Verantwortung wie jeder andere Mensch auch. Das sei natürlich und müsse nicht besonders betont werden, so Mo.

Es gab früher einige Reglementierungen für Schriftsteller. Das entspreche aber nicht den Regeln des literarischen Schaffens, meint Mo. Schriftsteller sollten frei schreiben. Die Freiheit habe jedoch Grenzen. „Man sollte mit Romanen nicht andere verletzen oder an seinen Gegnern Rache üben wollen."

Auch wenn sich der Geschmack der Leser wandelt, sollte der Schriftsteller sich zwar seinen Lesern widmen, aber nicht vor ihnen kapitulieren, findet Mo. „Manchmal sollten wir in gewissem Sinn die Leser herausfordern, einfach Werke schaffen und dabei nicht an die Reaktion des Lesers denken. Möglicherweise entsteht so ein einflussreiches Werk."

Der deutsche Schriftsteller Volker Braun hielt einen Vortrag mit dem Titel „Großstadtromane sind die Dorfprosa in der Ära der Globalisierung". In der Diskussion erklärte er, Freiheit sei notwendig für einen Schriftsteller. „Literatur ist anders als Politik. Für Politik muss man nachgeben und zu einem Kompromiss kommen. Literatur nicht. Bei der Literatur kann man keine Konzessionen machen und zurückweichen."