Qiao Qiao, ein junger Regisseur aus Beijing, hat 2008 die Beijing Film Academy absolviert. Endlich frei, folgte er seinem Traum an den Gelben Fluss, die Kamera sein einziger Begleiter. Innerhalb von vier Jahren verbrachte er 1400 Tage an den Ufern von Chinas mythischem Strom. Seine Filmdarsteller: Wildtiere, die das Ufer bevölkern. Sein Anliegen: die von Umweltverschmutzung bedrohten Feuchtgebiete zu dokumentieren und die Beziehung zwischen Mensch und Natur zu beschreiben. Sein Engagement trug ihm den Ruf eines Mannes ein, "der mit der Kamera die Wahrheit sagt". Sein vier Minuten langer Film "Heimat" wurde 2011 auf dem 2. International Folk Video Festival in Xi´an als bester Kurzfilm ausgezeichnet.
Ein Schwan
Lin Liangzhong und Qiao Qiao (Rechts)
Herzbewegend
Ende April 2011 ging Qiao Qiao erstmals an den Gelben-Fluss, um einen Film über Trappen zu machen, nahe Verwandten des Kranichs. Plötzlich gerieten ihm zwei Graue Kraniche (Grus grus) vor die Linse. Er fand es seltsam, das diese beiden Exemplare so wenig kamerascheu waren, während ein Schwarm ihrer Kollegen schon längst auf und davon geflogen war. Er fokusierte die Kamera auf die beiden und entdeckte, dass eines der Tiere sich beim Versuch, sich aus einer Falle zu befreien, ein Bein gebrochen hatte. Der andere Kranich wich nicht von seiner Seite und wachte beim Verletzten. Die beiden Tiere schauten sich tief in die Augen, so wollte es Qiao Qiao erscheinen: „Der Ausdruck von Liebe in den Augen der Tiere hat mich tief berührt. Diese Liebe ist gleich wie die Liebe zwischen Mann und Frau, die auch der Not standhält. Sie bewahren Treue füreinander und gehen nicht auseinander. Diese Szene habe ich im Gedächtnis behalten, jedes Mal, wenn ich daran denke, bin ich aufs Neue gerührt," sagt Qiao. Diese Vögel hat er mit seiner Kamera festgehalten. Er hofft, durch diese Aufnahmen die Menschen dazu anzuhalten, über ihr eigenes Verhalten nachzudenken. Solche Bilder bestärken ihn darin, mit der Filmerei weiterzumachen.
2010 drehte Qiao Qiao im Kreis Changyuan in der Provinz Henan am Gelben Fluss. Eines Morgens ging er mit seinem Assistent am Ufer entlang und sah dabei einen weißen Gegenstand im Wasser liegen. Schnell war klar, dass es sich um einen toten weißen Schwan handelte. „Ein Schwan von engelsgleicher Schönheit, getötet mit Pflanzenschutzmittel, das Weizenkörner beigemengt war. Die Leute aus der Gegend stellen den Tieren wegen der Federn nach, die sich gut verkaufen lassen. Auch essen sie die vergifteten Schwäne, was nicht nur unvernünftig, sondern sehr gefährlich ist. Wie traurig wäre unser Leben, wenn so anmutige Wesen wie Schwäne von der Bildfläche verschwänden?" fragt Qiao. Aber wo die Gefahr am größten ist, wächst das Rettende auch: Wie im Märchen lebt ein armer alter Mann in Flussnähe, der jeden Tag auszieht, um nach den Schwänen zu sehen und sie zu beschützen. Er tut das schon seit Jahrzehnten. Auch das fand Qiao sehr anrührend.
Qiao verzichtet auf vieles, nur nicht auf das Filmemachen. Er hat gelernt, selbst in verzweifelter Lage den Hoffnungsschimmer am Horizont entdecken zu können. Um seine Filme finanzieren zu können, hat er Wohnung und Auto in Beijing verkauft. Das hat er sich gut überlegt. Aber das Geld reichte nicht lange aus, er musste sich neues Geld leihen. Bislang hat er schon fünf Millionen Yuan ( rund 481 550 Euro) in die Filmarbeit gesteckt.
Um Geld zu sparen, muss das Team bei Wind und Wetter im Zelt schlafen und sich von einfachen Speisen ernähren. Wenn die Gefahr besteht, unwiederbringliche Szenen nicht drehen zu können, fällt das Essen ganz aus, was nicht selten vorkommt. Aufgrund der harten Arbeitsbedingungen reduzierte sich die Zahl der Mitglieder des Teams von sechs auf zwei. „Mein Assistent, der blieb, ist gerade einmal 20 Jahre alt und teilt mit mir billige Sesambrötchen und Salzgemüse. Das tut mir leid." Er hofft, dass er seinen Gehilfen später durch die Produktion wichtiger Filme entschädigen kann.
In den vergangen vier Jahren hat Qiao auf der Jagd nach Träumen viel Hilfe und wertvolle Ratschläge von Freunden, Bekannten und Fachleuten empfangen.
„Lin Liangzhong, ein international bekannter Kameramann, der unter anderem im Erstling von Ning Cai „Season of the Horse" (Jifeng zhong de ma) die Kamera führte, hat mich sehr unterstützt. Auf eigene Kosten kam er mich aus Taipeh besuchen. Am Schnittplatz hat er sich meine Aufnahmen angesehen und gab mir wertvolle Tipps. Solche moralische Unterstützung ist sehr wertvoll", so Qiao weiter.
Zhao Lianshi, Experte bei China Association for Scientific Expedition, spricht die gleiche Sprache wie Qiao Qiao. Bevor der Dokumentarfilmer sein Projekt im tibetischen Hochland begann, hat Zhao ihn umfassend informiert über den ökologischen Wandel des Gebiets und den Einfluss der Klimaveränderung auf den Fortbestand der Gletscher. Das hat Qiao viel Mühe bei der Suche nach geeigneten Drehorten erspart.
Gefährliche Leidenschaft
Qiao setzt sich bei seiner Arbeit zahllosen gefährlichen Situationen aus. Er kann sich nicht genau erinnern, wie oft er in Lebensgefahr schwebte: „2011 wurde ich von einer Flutwelle am Gelben Fluss überrascht. Eigentlich gibt es in der Uferböschung wenig Wasser. Ich filmte gerade ein Nest mit drei kleinen Vögeln darin, die gerade geschlüpft waren. Plötzlich kam das Wasser und drohte das Nest fortzuspülen. Die kleinen Vögel hätten keine Überlebenschance gehabt", erinnert sich Qiao.
„Es wurde schon dunkel. Ich hatte keine Lampen mitgebracht. Zuvor hatte ich einen Bootsführer beauftragt, uns im Notfall aufzunehmen, aber er kam nicht." Jetzt galt es schnell zu handeln, aber durfte er seine teure Kamera gefährden? Allerdings blieb keine Zeit, um zuerst die fünfzig Kilo schwere Ausrüstung zu bergen und vielleicht dann die Jungbrut zu retten. In diesem kritischen Moment fasste Qiao einen kühnen Entschluss: er rannte 100 Meter in die Fluten des Gelben Flusses, um die drei Vögelchen zu retten. „Das Wasser reichte mir schon bis zur Taille. Wir hoben die Kamera und das Vogelnest über unsere Köpfe und rannten mit letzter Kraft ans Ufer. Die Szene war wirklich filmreif, nur hat sie leider niemand gefilmt!"
Das Zeigen der Wunden
„Je näher man dem Unterlauf des Gelben Flusses kommt, umso mehr Menschen und Chemiefabriken gibt es, und als Folge eine immer gravierendere Umweltverschmutzung", sagt Qiao.
In der Tengger-Wüste, die zwischen der Inneren Mongolei und dem Autonomen Gebiet Ningxia der Hui-Nationalität liegt, entsorgen viele Chemiefabriken Abwässer und Abfälle, so dass sich der gelbe Wüstensand schwarz färbt. Im Industriegebiet von West-Ordos im Autonomen Gebiet Innere Mongolei sieht man überall Kohletagebau. Es ist ein Land voller Wunden, die Luft ist von Rauch und Staub erfüllt. Das Grundwasser ist verseucht. In der Naturschutzzone des Gelben-Fluss-Deltas in der Provinz Shandong erschließt die lokale Regierung das einzigartige Feuchtgebiet als Tourismuszone, was erhebliche Umweltbelastungen mit sich bringt. Zudem baut man dort auch noch Fabriken und fördert Erdöl. Derlei ist aus vielen Gegenden zu berichten.
Der Anblick der geschundenen Natur zerreißt Qiao fast das Herz. Aber er kann mit seiner Kamera nur den Verfall dokumentieren, er ist nicht in der Lage, den ursprünglichen Zustand der Landschaft wieder herzustellen. Über was er verfügt, ist Herz und Augen, die Welt zu beobachten, und ein Objektiv, die Wahrheit aufzuzeichnen. Er will mit seinen Aufnahmen die Wunden zeigen, die der Mensch dem Fluss geschlagen hat. Er möchte die Leute aufrütteln.
Qiao kann sich nicht erinnern, wie viele Paar Schuhe er bei seinen Wanderungen am Fluss aufgearbeitet hat. „Ich habe bislang 2000 Stunden Material aufgenommen, aber ich plane einen Film von 90 Minuten Länge, den ich in China und im Ausland zeigen will. Dahinter steckt die Idee, mit Hilfe des Mediums Film die Umwelt zu schützen."
Eigentlich sollte er sich hin und wieder ein Päuschen gönnen. Aber dazu kommt es nicht wirklich. Wenn er nicht am Ufer des Gelben Flusses hinter der Kamera steht, dreht er Werbe- und Industriefilme, um das Geld zu verdienen, das er in seine Arbeit am Fluss steckt. Es ist Qiao ein bisschen peinlich, dass er jetzt eigentlich gut einen Geländewagen brauchen könnte, denn oft befinden sie sich mit ihrer Ausrüstung in unzugänglichem Gelände. Die Miete für ein SUV ist hoch, mehrere hundert Yuan am Tag. Zusammen mit den Kosten für Leihgerät summiert sich ein Tagesdreh auf mehrere tausend Yuan. Gern würde Qiao einen Sponsor finden, aber dazu hat sich bislang noch niemand bereit gefunden.
Qiao ist sich nicht sicher, wie lange er seine Filmarbeit am Gelben Fluss fortsetzen wird: ein, zwei Jahre oder doch sein ganzes Leben lang? In Zukunft will er noch andere Filme über Menschen machen, aber er wird wohl immer am Thema Natur und Umwelt festhalten: „Mein größter Traum ist es, meine Gedanken in einen Film einfließen zu lassen." |