15-11-2010
Porträt
Annäherung an einen Klassiker
 

Lin Wusun

Für viele Menschen im Westen ist Konfuzius (551-491 v.Chr.) gleichbedeutend mit China. In China selbst denkt man ganz ähnlich über diesen Klassiker des chinesischen Denkens: aufgrund des unermesslichen Einflusses, den seine Gedanken auf die Entwicklung der chinesischen Kultur ausgeübt haben, wird er als der bedeutendste Denker des chinesischen Altertums angesehen. Seine Lehre – vor allem die Betonung der kindlichen Pietät und der sozialen Beziehungen – tritt am deutlichsten in den „Gesprächen" (Lun Yu) zu Tage, einer Sammlung seiner Aussprüche und Gespräche mit seinen Schülern, die lange nach seinem Tod zusammengestellt worden ist. Dieser Klassiker der chinesischen Literatur ist in alle wichtigen Sprachen der Welt übersetzt worden. Im März dieses Jahres hat der Fremdsprachenbuchverlag (FLP) mit Sitz in Beijing eine neue Ausgabe der „Gespräche" auf den Markt gebracht. Lin Wusun, ein gefeierter Übersetzer, langjähriger stellvertretender Chefredakteur der Beijing Review und ehemaliger Präsident der China International Publishing Group (CIPG), hat in den 1940er Jahren in den USA Philosophie studiert und seit den 1990er Jahren diese neue Übersetzung des konfuzianischen Klassikers ins Englische erstellt. Mit dem Reporter der Beijing Review Zan Jifang hat er sich kürzlich zum Gespräch getroffen.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, die „Gespräche" des Konfuzius zu übersetzen? Wie lange haben Sie an diesem Projekt gearbeitet?

Lin Wusun: Offen gestanden habe ich mich als junger Mann kaum für chinesische Philosophie interessiert. Deswegen wählte ich auch westliche Philosophie als Hauptfach, als ich in den 40er Jahren in den USA auf dem Dartmouth College in New Hampshire studierte. Ich war geradezu besessen von westlicher Methodologie. Aber als ich nach dem Abschluss meines Studiums zu Beginn der 50er Jahre nach China zurückkehrte, ich mir nach und nach klar geworden, wie sehr das traditionelle chinesische Denken die Werte und die Gedanken des chinesischen Volkes beeinflusst haben. Wir Chinesen müssen etwas über die Wurzeln unserer Kultur lernen.

Nach meiner Pensionierung im Jahr 1994 habe ich endlich etwas mehr Zeit gehabt für die Dinge, die mich interessieren. Eines meiner Interessengebiete ist das Übersetzen von chinesischen Klassikern. Als erstes habe ich die „Kunst des Krieges" von Sun Zi und dann die „Kunst des Krieges" von Sun Bin übersetzt.

In den späten 90er Jahren habe ich damit begonnen, die „Lun Yu" zu übersetzen. Weil es sich das Verlagshaus dann aber anders überlegt hatte, habe ich viel Zeit gehabt, meine Übersetzung immer wieder zu überarbeiten. Das half mir sehr, das Original besser zu verstehen.

 

Was ist das Besondere an Ihrer Fassung der „Gespräche" verglichen mit früheren Konfuzius-Übersetzungen?

Da das Buch ein Klassiker des Altertums ist, wird es von unterschiedlichen Leuten auch jeweils unterschiedlich aufgefasst. So reflektiert jede Übersetzung die jeweils eigene Auslegung des Originals durch den Übersetzer.

Hinzutritt, dass sich Sprache im Laufe der Zeit wandelt. So wurde früher das Wort „ren", ein zentraler Begriff des Konfuzianismus, mit „benevolence" (Nächstenliebe) übersetzt. Aber heute deckt dieses Wort nicht mehr die volle Bedeutung des Begriffs ab, weshalb ich es in meiner Übersetzung als „humaneness" (Menschlichkeit) wiedergegeben habe.

Die Wertschätzung, welche den Klassikern zu verschiedenen Zeiten entgegengebracht wurde, schwankte. Deshalb gibt es so viele verschiedene Übersetzungen ein und desselben Buches. Auch in Zukunft werden immer wieder neue Übersetzungen der „Gespräche" erscheinen.

Um einer ausländischen Leserschaft zu einem tieferen Verständnis der „Gespräche" und des Konfuzianismus zu verhelfen, habe ich meiner Übersetzung eine Einführung beigegeben, in der vom Leben des Konfuzius berichtet und der prägende Einfluss geschildert wird, den der Konfuzianismus auf die chinesische Philosophie und die Gesellschaft ausgeübt hat. Außerdem stelle ich einen Vergleich an zwischen den Gedanken, den Erfahrungen und dem Einfluss von Konfuzius, Socrates und Jesus. In einem Anhang habe ich dreißig nützliche Zitate von Konfuzius zu einer kleinen Abhandlung zusammengestellt, um dem Leser eine Anregung zu weiterführender Lektüre zu geben.

 

Worin liegt in Ihren Augen die Bedeutung der „Gespräche"?

Ich denke, dass einige der Ideen, die in dem Buch zum Ausdruck kommen, auch heute noch Gültigkeit besitzen. So fasst Konfuzius etwa Harmonie als etwas sehr Wertvolles auf und spricht von „Harmonie aber keine Einförmigkeit". Ich denke, das können die Menschen auch heute noch gebrauchen.

„Die Gespräche" enthalten auch das berühmte Diktum von Konfuzius „Was du nicht willst, das man dir tut, das tue auch keinem anderen an", auch bekannt als die „Goldene Regel". Ähnliche Formulierungen finden sie auch in den Lehren vieler anderer Religionen. So heißt es zum Beispiel im Matthäus-Evangelium: „Verhalte dich gegenüber anderen so, wie du selbst von ihnen behandelt werden willst." Die Ähnlichkeit dieser Gedanken bezeugt die Universalität menschlicher Werte.

Konfuzius legt auch großen Wert auf Erziehung, was auch heute noch von hoher Bedeutung ist. Konfuzius ist der Ansicht, dass ein Mensch nicht nur Wissen erwerben soll, sondern auch den rechten Umgang mit den Menschen und Dingen. Er hebt besonders die Ehrlichkeit hervor.

Geradeso wie die Bibel die Sprachen des Westens beeinflusst hat, haben die „Gespräche" die chinesische Sprache bereichert und in hohem Maße das chinesische Denken und die Werte der Chinesen geprägt. Viele Sentenzen aus den „Gesprächen" werden noch immer in der Alltagssprache und der Literatur verwendet, zum Beispiel die Wendung „wenn ich drei Menschen treffe, so ist gewiss einer unter ihnen, von dem ich etwas lernen kann." Außerdem gibt es in den „Gesprächen" viele Anekdoten, die einfach und interessant sind, aber zugleich zur Aufklärung des Menschen beitragen.

Allerdings glaube ich nicht, dass Konfuzius vollkommen ist! Er schätzt über alle Maßen die Vergangenheit. Das ist der Grund, warum ihn viele Leute für konservativ halten. Vielleicht haben sie Recht. Aber sein Konservativismus ist verständlich. Das Zeitalter des Konfuzius war von politischen Verwerfungen und sozialer Unrast geprägt. Deshalb erschien ihm die Vergangenheit - zum Beispiel die Westliche Zhou-Dynastie (11. Jh. bis 771 v.Chr.) - als ein Goldenes Zeitalter und der Herzog von Zhou als eine vielzitierte Idealgestalt.

Auch blickte Konfuzius auf Frauen herab. Ich denke, dass dies ein Makel ist, den wir nicht verdecken sollten. Allerdings ist diese Haltung durchaus verständlich, denn Konfuzius lebte in einer patriarchalischen Gesellschaft, in der Frauen keinen angemessenen sozialen Status genossen; seine Einstellung gegenüber Frauen war also nur ein Spiegelbild der Werte seines Zeitalters.

 

Was war das schwierigste Problem bei Ihrem Übersetzungsprojekt?

Die größte Schwierigkeit besteht darin, dass die „Gespräche" eine Aufzeichnung der Worte und Erfahrungen des Konfuzius sind, kein systematisch aufgebautes Essay oder eine Abhandlung. Bevor man sich an die Übersetzung machen kann, muss man Kontext und Hintergrund des Textes verstehen. Das ist sehr schwierig, denn das Buch ist in klassischem Chinesisch geschrieben, und ein Wort oder ein Satz kann viele verschiedene Bedeutungen haben.

Hinzukommt, dass zahlreiche Personen im Text Erwähnung finden - einige sind historische Gestalten, andere sind ansonsten unbekannte Schüler von Konfuzius. Der Übersetzer muss wissen, wer diese Personen sind, und muss sie dem Leser in Fußnoten vorstellen. Das Problem besteht darin, wie viel Raum man den Fußnoten einräumen soll. Zu viele Anmerkungen behindern den Lesefluss und erschweren dem Leser das Verständnis. Man muss die positiven und die negativen Aspekte der Verwendung von Fußnoten gegeneinander abwägen. Das ist der Grund, warum ich meine Übersetzung so oft überarbeitet habe. Und ich bin immer noch nicht ganz zufrieden mit dem Ergebnis.

 

Wer ist die Zielgruppe für Ihre Übersetzung?

Der Verlag hofft, dass das Buch Leser anzieht, die sich für chinesische Kultur interessieren. Ich hoffe, das Buch hilft den Sprachlernenden an den Konfuzius-Instituten im Ausland dabei, ein besseres Verständnis von China zu entwickeln. Eine weitere Zielgruppe könnten Chinesen sein, die Englisch lernen.

Die grundlegende Anforderung an meine Übersetzung ist, dass das Buch lesbar sein muss für den Durchschnittsleser. Ich denke, eine gute Übersetzung sollte leicht verständlich sein. Die größte Schwierigkeit besteht darin, komplizierte Sachverhalte in einfacher Sprache zu vermitteln.

Worin besteht Ihrer Meinung nach die größte Schwierigkeit für einen ausländischen Leser bei der Rezeption der „Gespräche" des Konfuzius?

Meiner Ansicht nach ist Sprache nach dem Übersetzungsvorgang nicht mehr die größte Verständnishürde. Problematisch sind vor allem kulturelle Unterschiede. Sprache beruht auf der Alltagserfahrung der Menschen. Was für uns Chinesen ganz selbstverständlich und normal erscheint, mag für den Ausländer vollkommen unvertraut sein. Beim Übersetzen kann man daher den Inhalt eines Satzes nicht wortwörtlich übertragen. Ein Übersetzer muss sich in beiden Kulturen sehr gut auskennen.