In einem grauen Gebäude in Wuhan ist Tod ein unvermeidliches Thema. Hier ist ein Ableger des Hongkonger Sterbehospiz für Senioren unterbracht. In den Augen von Lam Yuman, Mitarbeiterin des Hospiz, zählt hier nur noch eine einzige Aufgabe: alten Menschen dabei zu helfen, ihren letzten Willen zu erfüllen, ihnen die Angst vor dem Sterben zu nehmen, damit sie in Ruhe ihre letzte Lebenszeit verbringen können.
Soll man mit Senioren über den Tod sprechen?
Vor drei Jahren ist Lam Yuman alleine von Hongkong nach Wuhan gekommen. Damals war gerade das Hongkonger Sterbehospiz in Wuhan eröffnet worden. Jedes Apartment des Zentrums verfügt über zwei Betten, eine Klimaanlage und ein Badezimmer. Die ersten Bewohner des Zentrums kamen aus einer Reihe von Altenheimen in der Provinz Hubei. Die meisten der Alten hatten damals nur noch eine drei- bis sechsmonatige Lebenszeit vor sich. Als sie in das Hospiz umzogen, war dies für die Mehrzahl der Senioren das erste Mal, in solch einem „guten und gemütlichen" Apartment zu wohnen.
Das erste Problem, mit dem Frau Lam bei Antritt der Stelle in Wuhan konfrontiert war: „Wenn ein Mensch dem Tod geweiht ist, soll ich ihn dann aufklären über sein nahendes Lebensende?" Lam meint, dass jeder Mensch das Recht habe, über diese unausweichliche Tatsache Bescheid zu wissen. „Wieso informieren wir ältere Menschen nicht wahrheitsgemäß über ihren Gesundheitszustand und die Zeit, die ihnen verbleibt, damit sie ihre Verhältnisse regeln können?", äußert Lam Yuman ihr Unverständnis gegenüber der Praxis, die sie in Wuhan vorgefunden hat. Eine Kollegin vom chinesischen Festland sagte ihr, wenn man den Kranken darüber aufklärt, dass ihm nicht mehr viel Zeit übrig bleibt, würde dies auf den Patienten einen starken psychischen Druck ausüben.
Frau Lam findet, dass die Ursache dafür im kulturellen Unterschied zwischen Festland und Hongkong liegt. Auf dem Festland können nur Gleichaltrige miteinander über den Tod reden. Würden ihre Kinder dieses Thema anschneiden, wären sie schnell als „pietätlos" abgestempelt. Spricht ein Jüngerer mit einem Älteren über dessen bevorstehenden Tod, so gilt dies als eine Verfluchung, als ob man dem Angehörigen den Tod wünschen würde. Dies hat Lam in große Verlegenheit gebracht. Denn in Hongkong hat sie immer ganz offen mit ihrer Mutter darüber gesprochen, wie sie für sie später einmal die Trauerangelegenheiten besorgen könnte.
Bislang hält sich Frau Lam an die für sie verwirrenden Gepflogenheiten von Wuhan, aber sie befürchtet, dass die Sterbenden die Welt mit Bedauern und Reue verlassen, wenn man ihnen das nahe Ende ihres Lebens verschleiert. Sie glaubt, dass man im Sterbehospiz den Menschen dabei helfen soll, ruhig und ohne Bedauern die Welt zu verlassen.
„Ich möchte Todgeweihten nur dabei helfen, dass sie die Welt ruhig verlassen können"
Von Außen betrachtet wirken die Senioren im Hospiz entspannt und sogar ein bisschen verschlossen, allerdings sind viele von ihnen traurig. Den ersten Insassen, den Lam Yuman betreute, war ein vereinsamter Rentner. Aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung wusste sie, dass er Angst davor empfand, isoliert und allein zu sein. Deswegen besuchte sie ihn täglich in seinem Zimmer. Oft schwieg der Alte. Dann saß sie einfach neben seinem Bett und sah gemeinsam mit ihm fern. Eines Tages trat sie in sein Zimmer und traf ihn bei der Zeitungslektüre an. So fragte sie ihn: „Ich habe Probleme damit, Kurzzeichen zu lesen [in Hongkong werden Langzeichen verwendet]. Können Sie mir erzählen, was draußen in der Welt passiert?"
So wurde der Mann auf einmal gesprächig. Noch am gleichen Tag erzählte er ihr, was er in der Zeitung gelesen hatte. Von da an tat er das jeden Tag. Nach und nach begannen die beiden, sich auch über andere Dinge zu unterhalten. Ihre Beziehung wurde kontinuierlich besser und harmonischer. Eines Tages kam Lam wie üblich in sein Zimmer, um mit ihm zu plaudern. Allerdings sagte der Alter plötzlich: „Frau Lam, ich bin dem Tod nahe und kann dir keine Geschichten mehr erzählen."
„Hast du noch einen Wunsch, den ich dir erfüllen kann?", fragte Lam.
Der Alte sagte ihr, dass er sich immer eine Beschreibung seines Lebens gewünscht hatte: „Aber wer wird sich schon für einen Menschen wie mich interessieren?"
„Wir alle haben Interesse an Ihrem Leben!", antwortete Lam. Sie ermutigte den Alten, eine Autobiografie zu verfassen.
Mit Lams Unterstützung hat dieser Mann, der sein Leben lang unbekannt geblieben ist, im Alter damit begonnen, die Geschichte seines Lebens aufzuschreiben. Lam Yuman besuchte ihn jeden Tag und hörte sich den Fortgang der Handlung an. Sie begleitete ihn bis zu seinem Tod und versprach ihm, dass seine Lebensbeschreibung gut aufbewahrt werden würde. Voller Seelenruhe verließ er diese Welt.
Seit drei Jahren teilen Lam Yuman und ihre Kollegen viele Geheimnisse der von ihnen bis zuletzt Betreuten. Ein Alter vertraute ihr an, dass er sein ganzes Leben wegen einer falschen Handlung in jungen Jahren tiefe Reue empfand. Eine Seniorin, die zeitlebens ein glückliches Händchen bei der Kultivierung von Obstbäumen bewiesen hatte, verriet Lam vor dem Tod noch das Geheimnis ihres Erfolges. Obwohl ihre Arbeit von immer mehr Menschen gewürdigt wird, findet Lam Yuman, dass das Hospiz noch nicht von allen wirklich angenommen werde.
Zweifel am Sinn des Hospiz
In Hongkong besteht die Belegschaft des Hospizes nicht nur aus medizinischen Pflegerinnen und Pflegern, sondern auch aus Physiotherapeuten und Apothekern. Sie erstellen gemeinsam für jeden Heimbewohner einen individuellen Versorgungsplan,
in dem auf individuelle Bedürfnisse eingegangen wird. In Hongkong gab es einmal einen über 80-jährigen Mann, der an Diabetes litt. Kurz vor seinem Tod äußerte er den Wunsch, eine süße Rotbohnensuppe zu essen. Die Pflegerin verständigte die Tochter des Mannes, die sofort damit einverstanden war. Schließlich konnte der Alte
täglich eine Schüssel Rotbohnensuppe mit weniger Zucker essen. Im Hospiz in Wuhan ist es jedoch immer noch sehr schwer, auf individuelle Wünsche
einzugehen.
Immer wieder ist Lam mit Zweifeln am Konzept des Hospiz konfrontiert. Dann erzählt sie die Geschichte von den Seesternen. Mit dieser Geschichte begegnet sie Einwänden. Auf dem Sandstrand gab es überall Seesterne, die von den Wellen an Land gespült wurden und nun auf dem Strand in ihren letzten Zügen lagen. Ein Kind las die Sterne einen nach dem anderen auf und warf sie wieder ins Meer zurück. Jemand fragte das Kind: „Auf dem Strand gibt es Tausende von Seesternen, was hilft da deine Aktion?" Das Kind betrachtete den Stern in seiner Hand und sagte: „Wenigstens diesem Seestern kann meine Tat helfen." (Quelle: China Youth) |