Bei der 56. Internationalen Mathematik-Olympiade (IMO), die im Juli in Chiangmai, Thailand, stattfand, ging die Goldmedaille an das Team der USA, während das chinesische Team, das 18 Meisterschaften im letzten Vierteljahrhundert gewonnen hatte, den zweiten Platz belegte. Das Resultat dieses Wettbewerbes wurde daraufhin ein heißes Diskussionsthema in ganz China. Jahrelang galt Mathematik als die Stärke des viel kritisierten chinesischen Schulsystems, da man sich stets darauf verlassen konnte, dass das chinesische Team mit der Goldmedaille heimkehren würde. Die Teilnahme an der Olympiade galt auch als wichtiger Gradmesser bei der Auswahl für die besten Mittel- und Hochschulen. In den vergangenen Jahrzehnten konnten die Schüler und Studenten, die bei den Bewerben für die Olympiade gut abschnitten, zusätzliche Punkte erhalten, die zu den Punkten bei der Hochschulaufnahmeprüfung dazugezählt wurden. Einigen war es sogar möglich, ohne diese Prüfung die besten Universitäten zu besuchen. Das hatte aber dazu geführt, dass Studenten mit dem überwältigenden Druck der Universitäten nicht fertig wurden, weshalb sich das Unterrichtsministerium veranlasst sah, die Kurse für die Mathematik-Olympiade aus den Grund- und Mittelschulen zu verbannen.
Die Leistung der chinesischen Teilnehmer bei der letzten IMO hat aber die Debatte erneut angefacht, ob die Entscheidung, weniger Wert auf die Mathematik-Olympiade zu legen, tatsächlich richtig war.
Chen Zhiwen (China Youth Daily): Wenn man den Vergleich mit den USA macht, sieht man, dass amerikanische Universitäten nach wie vor die Gewinner der Mathematikbewerbe bevorzugen. Diese Studenten werden gerne an den prestigeträchtigsten Universitäten zugelassen. Wer eine amerikanische Universität besuchen will, wird von den Beratern für Auslandsstudien hören, wie wichtig die Zertifikate aus solchen Bewerben sind. Solche Auszeichnungen können sogar einen schlechten Notendurchschnitt ausgleichen. Ein Preis aus der Mathematik-Olympiade gilt oft als der beste Beweis für die akademischen Fähigkeiten eines Schülers.
In China hat die olympische Mathematik in den letzten Jahrzehnten ihre Auf und Abs erlebt. Besonders in den letzten Jahren wurde sie dämonisiert und ihr wurde die Schuld, für viele verschiedene Probleme in den Grund- und Mittelschulen zugeschrieben, besonders für den großen Druck, der den Schülern auferlegt wurde.
Seit es keine Eintrittsprüfung für die Mittelschulen mehr gibt, wurde Mathematik als wichtiger Indikator für die Fähigkeiten eines Schülers genommen. Der unumstößlichste Beweis dafür war zweifelsohne das Abschneiden bei den Bewerben der Mathematik-Olympiade. Daraus resultierte jahrelang ein Fimmel für die Mathematik-Olympiade. Wie auch immer, seit 2009 sind die Kontroversen darüber gewachsen.
Zur gleichen Zeit machten einige Experten die prestigeträchtigsten Universitäten auch für die ungleiche Verteilung der Ressourcen im Bildungssystem und die schwierigen Zulassungsprüfungen verantwortlich. Wenn diese Universitäten ihre Anforderungen senken würden, wäre eine ganze Reihe von Problemen des Bildungssystems Vergangenheit. Wie auch immer, wenn diese Universitäten das tatsächlich machen würden, würde wohl das gesamte Bildungssystem zweifelsohne abrutschen und das System, das eine ganze Reihe von Top-Talenten hervorgebracht hat, würde möglicherwiese kollabieren.
Es macht keinen Sinn, das chinesische Bildungssystem mit dem anderer Länder zu vergleichen. Wir müssen ein effektives Bildungssystem entwickeln und Modelle aufbauen, die Talente fördern. Dieses auf dem umfassenden Verständnis hochwertiger Ausbildungskonzepte basierende Bildungssystem muss auf Chinas nationalen Voraussetzungen und seiner kulturellen Realität aufbauen. Einige der so genannten Bildungsexperten wären gut beraten, wenn sie sich mehr mit der Realität des chinesischen Bildungssystems auseinandersetzen würden. So könnten sie es vermeiden, die Öffentlichkeit und die Regierung schlecht zu informieren.
Wei Yingjie (Qianjiang Evening News): Seit 1990 hat das chinesische Team 18 Mal bei der IMO gewonnen, während das dem amerikanischen nur zweimal gelungen ist: 1994 und 2015.
Aufgrund der Leistung dieses Jahres zeigten einige mit dem Finger auf die Streichung der Möglichkeit die Leistungen der Mathematik-Olympiade bei der Zulassung für Mittel- und Hochschulen zu berücksichtigen. Diese Anschuldigung ist grundlos, da diese Richtlinie erst vor einem halben Jahr beendet wurde und Studenten sich normalerweise jahrelang für solche Bewerbe vorbereiten.
Das Ergebnis hat öffentliche Besorgnis ausgelöst, da es für viele als Gesichtsverlust Chinas galt. Wie auch immer, es hat sich gezeigt, dass die Aufgaben dieses Jahres die schwierigsten seit 1959 waren. 74 der 104 teilnehmenden Teams schnitten mit null Punkten ab! Man kann nicht einfach davon ausgehen, dass man selbst immer der Gewinner eines so schweren Wettbewerbes ist. Es gibt noch zahlreiche Chancen, die die jungen Teilnehmer in der Zukunft erwarten werden.
In gewisser Hinsicht ist es gut, dass das chinesische Team dieses Mal nicht als Sieger hervorging – schlicht und einfach, weil diese Veranstaltung über Gebühr betont wird. Die Öffentlichkeit sollte es mit einem Sinn für Verhältnismäßigkeit angehen. Es ist doch nur ein Wettbewerb! Das ursprüngliche Ziel des Bewerbes war, junge Menschen mit mathematischem Talent zu fördern und zu entdecken. Wie auch immer, in China wurde die Rolle der Mathematik-Olympiade verzerrt, um in einer prüfungsorientierten Erziehung wiedergegeben zu werden. Als Resultat schossen Trainingsklassen im ganzen Land aus dem Boden. Das ist gegen den Geist der Mathematik-Olympiade und birgt das Risiko, das genuine Interesse an Mathematik unter den chinesischen Schülern zu zerstören.
Eine weitere extreme Meinung ist, dass es absolut sinnlos wäre, die Mathematik-Olympiade beizubehalten. Laut dieser Argumentation bringt der Wettbewerb nur Druck für die Kinder und schadet ihrer Intelligenz. Allerdings hilft die Mathematik-Olympiade ja das Denken der Kinder in Bezug auf mathematische Probleme zu entwickeln. Der Schlüssel liegt darin, dass Kinder lernwillig und mit Freude an die Fragen der Mathematik-Olympiade herangehen.
Nur ungefähr 5 Prozent der Schüler haben die notwendige Begabung und das Interesse für die Mathematik-Olympiade zu lernen, daher ist es unpassend, den Wettbewerb zu dämonisieren oder blind zu verehren. Es würde reichen, die Veranstaltung als etwas zu betrachten, das Kinder mit einem besonderen Interesse an Mathematik fördert und so einige mathematisch talentierte Schüler zu entdecken, um sie zu ermutigen, mehr in dem von ihnen gewählten Gebiet zu erreichen. Die IMO ist ein Wettbewerb unter den besten Schülern der Mathematik. Es sollte nicht zu stark betont sein und es ist auf keine Weise irgendwie mit der Würde einer Nation verbunden.
Chao Bai (Nanfang Daily): Die IMO gilt als der World Cup der Mathematik. Der jährliche Wettbewerb zeigt die Spitze von Talent, Logik und rationalem Denken. China hat, seit es 1985 das erste Mal am Wettbewerb teilnahm, insgesamt 18 Mal gewonnen. Das bedeutet, dass China nicht das absolute Monopol auf Goldmedaillen hat. Teams aus Rumänien, dem Iran, Bulgarien haben ebenfalls zahlreiche Goldmedaillen eingesammelt. Dies ist also nicht das erste Mal, dass China nicht Gold gewinnt, warum gibt es also dieses Mal so starke Reaktionen?
Die Mathematik-Olympiade selbst ist weder gut noch schlecht, das Problem liegt in der wahnsinnigen Einstellung zu dieser Veranstaltung. Schon seit einer geraumen Zeit ist die Mathematik-Olympiade ein Mittel zum Zweck auf dem Weg zu höherer Bildung. Das entfernt sie zweifelfrei immer mehr vom ursprünglichen Ziel des Wettbewerbes.
Aus diesem Grund kam es bei der Einführung von Kursen für die Mathematik-Olympiade in den Grund- und Mittelschulen zu zahlreichen Aufschreien. Der Unterschied von gewöhnlicher Mathematik und Mathematik für die Olympiade ist wie der bei Wettbewerbs- und Amateursport. Während die, die bei einer bestimmten Sportart besonders gut sind, weitergehen und sich in internationalen Wettbewerben messen, werden die meisten Menschen nur Sport für ihre Gesundheit machen. Auch die Mathematik-Olympiade ist nur für die hochtalentierten und besonders Interessierten, aber nicht für die Mehrheit.
Der Verlust der Goldmedaille ist daher weder ein gutes noch ein schlechtes Ergebnis. Wir sollten es wie eine normale Veranstaltung behandeln. Darüber hinaus sollten wir auch die Rückkehr der Trainingsklassen für die Mathematik-Olympiade vermeiden.
Wu Xinde (http://www.wenming.cn): Die Debatten um die Mathematik-Olympiade schienen langsam abzuebben, aber lebten nun wieder auf, da die USA den Wettbewerb gewonnen haben. Einige sind eifersüchtig, andere wütend, und so weiter. Jedenfalls scheint die Mehrheit die vom chinesischen Team gewonnene Silbermedaille nicht annehmen zu wollen. Einige aber sehen die Niederlage als einen Sieg selbst, da es zeigt, dass chinesische Schüler nicht mehr so besessen von der Mathematik-Olympiade sind.
Keiner der beiden Standpunkte ist besonders gültig. Bei jedem Wettbewerb gibt es Gewinner und Verlierer. Tischtennis und Kunstspringen galten lange als die chinesischen Sporttugenden schlechthin, aber auch hier verlieren die chinesischen Teams hin und wieder die Goldmedaille an die Mitbewerber.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die Mathematik-Olympiade nicht für Chinas prüfungsorientiertes Bildungssystem verantwortlich gemacht werden sollte. In ganz China wurden viele verschiedene Mathematik-Wettbewerbe eingestellt, doch wird Bildung immer noch unter Rahmenbedingungen, die Prüfungen und Punkte über alles andere stellen, operiert. Zur gleichen Zeit bewegen sich die mathematisch besonders Talentierten langsam von der Mathematik-Olympiade weg. Welchen Einfluss das auf die Entwicklung der Mathematik in China haben wird, ist offen. |